Abschwören
Das normale Leben unter normalen Menschen verlangt gelegentlich vom Einzelnen, tätige Reue zu zeigen. Damit nimmt er teil n dem System von Abschwör- oder Sühne-Ritualen. Sämtliche Denksysteme, die sich anbieten, dem in psychische Not geratenen Individuum Hilfestellung zu leisten, räumen ihm nur einen entwerteten Platz ein oder wollen ihm das Thema abspenstig machen, indem sie dem Betreffenden den Subjektstatus verweigern. Man ermahnt ihn, zu verdrängen und zu sublimieren oder fordert ihn auf, Trauerarbeit zu leisten. Das geforderte Bekenntnis zur Mitarbeit am Projekt Gesundung mit dem Ziel der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ist gebunden an eine Unterwerfung unter das Gebot der Objektwerdung. Wenn mich die Lust ankommt, an eine der Diskurs-Türen zu klopfen, um irgendwo meiner Verrücktheit, die meine Wahrheit ist, „Anerkennung zu verschaffen, so schließt sich eine nach der anderen. Und wenn sie allesamt ins Schloß gefallen sind, zieht sich eine Sprachmauer um mich, die mich einengt, mir den Atem nimmt und mich abweist – wofern ich nicht tätige Reue zeige“ indem ich etwa einwillige, mich von einer Person zu trennen, mit der meine Gestörtheit irgendwie zusammenhängt, oder einem sich anders äußernden falschen Glauben abzuschwören. Was Roland Barthes für den Kummer der Liebe und dessen fehlende Sprache konstatierte, gilt allgemein.
Wissenschaftliche Literatur huldigt den Abschwörungsriten, religiöse ohnehin, und auch Belletristik hat primär diese Funktion. Der Prototyp der literarischen Abbitte ist die des Don Quijote: „Mein Verstand ist jetzt wieder klar und hell, frei von allen umnebelnden Schatten der Unvernunft, mit welchem das beständige, das verwünschte Lesen der abscheulichen Ritterbücher meinen Geist umzogen hatte. Jetzt erkenne ich den Unsinn und ihren Trug, und ich fühle mich nur deshalb voll Leides, weil diese Erkenntnis meines Irrtums so spät gekommen ist, daß ich keine Zeit mehr habe, ihn einigermaßen wiedergutzumachen und andere Bücher zu lesen, um meine Seele zu erleuchten..... (1097) „Ich war verrückt. Jetzt bin ich bei Verstand, ich war Don Quijote de la Mancha, und jetzt bin ich Alonso Quijano der Gute. Möchte doch bei Euch meine Reue und meine Aufrichtigkeit mich wieder in die Achtung zurückbringen, die man sonst für mich empfand!“
Am Schluß bittet Don Quijote den Testamentsvollstrecker, wenn er das Glück haben sollte, den Autor des Machwerks mit dem Titel „ Don Quijote“ kennenzulernen, der in der Welt rumläuft, „so möge er mich in seinem Namen so inständig als möglich um Verzeihung bitten, daß ich ihm unwissentlich den Anlaß gegeben, so vielen und so großen Unsinn zu schreiben, wie er da angehäuft hat, denn ich scheide aus diesem Leben mit Gewissensbissen, daß ich ihm Gelegenheit zu solchen Albernheiten gegeben.“ Ob Literaturwissenschaftler und Verlagslektoren mit Bachelor die Besonderheit dieses Sprechaktes zu erfassen vermögen, darf bezweifelt werden.
Dienstag, 4. Januar 2011