interpersonal enactment
Über das, was die Judenvernichtung im großen Stil und ohne nennenswerten Widerstand der Bevölkerung möglich gemacht hat, darf nicht gesprochen werden. Es darf nicht einmal darüber nachgedacht werden. Während man sich in Deutschland im Unterschied zu anderen Ländern die Aufarbeitung der Geschichte zugute hält, hat sie in Wahrheit noch nicht einmal begonnen. Die kalte Akribie, mit welcher der Holocaust ins Werk gesetzt wurde, mag in der Menschheitsgeschichte singulär sein, und doch verstellt man sich mit dem politisch korrekten Beharren auf der Singularität den Blick auf die Gründe dafür, daß dieses Vorhaben tatsächlich umgesetzt werden konnte, denn dazu bedurfte es der Mithilfe einer großen Anzahl von Normalbürgern und des Stillhaltens des Restes der Bevölkerung. Mithilfe und Stillhalten aber ließen sich nicht allein durch Polizeiterror und Angst vor der SS erreichen. Dazu bedurfte es der Ausnutzung einer allgemein-menschlichen Eigenschaft, einer Disposition, von der auch die Bevölkerungen der Staaten nicht frei waren, die sich nach zu langem Zögern schließlich gegen den NS-Staat gestellt haben und sich bis heute in schizophrenem Stolz auf die Bedeutung der jeweiligen Résistance gefallen, und die auch heute überall auf der Welt gegeben ist. Die Nazi-funktionäre hatten nicht von vornherein Kenntnis jener ausnutzbaren Eigenschaften. Sie waren, wie ein Eintrag im Tagebuch von Goebbels belegt, von dem Ausbleiben des Protestes nach der Reichskristallnacht und der Verbreitung von Mitmachern überrascht. Sie haben sich erst allmählich an das Potenzial herangestatet, mit dem sie rechnen konnten, und die entsprechenden Strategien seiner Ausnutzung und der Gleichschaltung von bereits vereinsartig organisierten Bevölkerungsgruppen erst allmählich entwickelt. Jenes von den Nazis beispielhaft erforschten Potenzials des Mitmachens und Stillhaltens läßt sich auch bei anderen Gelegenheiten beobachten. Wenn in Italien ein Maffiaopfer zu beklagen ist, hört man in der Bevölkerung, daß der Betreffende wohl etwas getan haben wird, das er nicht hätte tun sollen. Umsonst werde schließlich niemand umgebracht. Wenn jemand seine Arbeit verliert, wird wohl etwas vorgefallen sein, er seine Arbeit nicht ordentlich gemacht haben oder er sich nicht ausreichend qualifiziert gezigt haben. Wer vom Verlust des Arbeitsplatzes, des Vermögens oder des Ansehens oder seines Lebens verschont blieb, rechnet sich dies entsprechend als Verdienst an, wobei er das Unglück derer, die ein solches Schicksal ereilte, ebenfalls für verdient erachtet. Dieser Mechanismus, demzufolge wir von dem Unglück des anderen profitieren, ist es, der auch für den Erfolg der Planungen zur Völkervernichtung gesorgt hat. Joseph Conrad nannte ihn „sozialer Kanibalismus“. Leo Tolstoi „Klauen- und Krallen-Animalität“. Ronald D. Laing nannte ihn „interpersonal enactment“. Er ist damals wie heute das, was die soziale Welt im Innersten zusammenhält, der Kern der sozialen Existenz des Menschen und zugleich deren blinder Fleck, von dem alles abhängt, der sich aber selbst nicht fokussieren läßt. Rassismus und Antisemmitismus sind nur Epiphänomene, variable Erscheinungsformen jenes Mechanismus. Daß er nicht zur Sprache kommen, ja nicht einmal gedacht werden kann, daß er den Charakter eines Tabus besitzt, zeigte sich u.a. an den Reaktionen auf die Rede Jenningers in der Paulskirche. Diese Rede hätte der Beginn der noch immer ausstehenden, verbotenen Debatte sein können, wenn er nicht von der Phalanx der Gutmenschen aus allen Parteien mit beispielloser Aggressivität abgewürgt worden wäre, wenn man diesen Mann nicht kurzerhand kaltgestellt hätte, und wenn nicht die Medien ohne Ausnahme in das hysterische Geschei eingestimmt hätten.
Erziehung und Erziehbarkeit zum Mitmachen und Stillhalten sind besser erforscht worden am Beispiel des Kolonialismus. Der Hererokrieg war ein zentrales Diskursereignis in diesem Kontext. Populäre Romane wie Gustav Frenssens „Peter Moors Fahrt nach Südwest“ haben ein an der Peripherie stattfindendes Ereignis für ein breites Publikum aufbereitet. In solchen Romanen wird die Folie eines soziokulturellen Wissens sichtbar, „vor dem koloniale Gewalt als gerechtfertigt, die Vernichtung eingeborener Völker als legitim und notwendig erscheinen konnte“. In vielen zeitgenössischen Texten wurde die Vernichtungsstrategie keineswegs bestritten oder bagatellisiert, vielmehr beschrieben zahlreiche Autoren die Vernichtung der Herero ausdrücklich als legitim und notwendig. In einem Jugendbuch heißt es: „Jetzt ist es ein Rassenkrieg zwischen schwarz und weiß, und der muß ausgefochten werden bis zur endgültigen Entscheidung. Die Hereros haben sich entweder zu unterwerfen, oder sie werden ausgerottet, etwas anderes ist nicht denkbar“. Die Vernichtungspolitik steht im Zusammenhang mit allgemein gültigen, im Kolonialdiskurs wirksamen und reproduzierten Wissensmustern. Die Funktion, die Literatur hierbei übernimmt, ließe sich als Technik der Normalisierung und Camouflierung von Gewalt bezeichnen. (Medardus Brehl, Vernichtung der Herero. Diskurs der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur. Wilhelm Fink Vlg, München 2007)
Wenn heute die Naziverbrechen allgemein geächtet sind, deren Verharmlosung durch Vergleiche sogar bei Strafe verboten ist, wenn zugleich Gutmenschentum gesetzlich vorgeschrieben ist, dann wird sträflich verkannt, daß jene Verbrechen nicht nur von der Allgemeinheit in hinreichendem Maße geduldet, sondern von der Normalität gedeckt waren. Das große Rätsel besteht nicht darin, daß Menschen zu so etwas fähig sind, sondern daß sie es geschafft haben, dergleichen als normal erscheinen zu lassen. Das unheilbar Verstörende liegt darin, daß das, wovon wir Schutz erwarten, erwarten müssen, selbst das sein kann, wovon das Grauen ausgeht. Es kommt nicht von außen, sondern von innen, von dem Ort, wo man sein Erscheinen befürchtet und es sich doch nicht vorstellen kann. Auf keinen der selbstgewissen Wächter der Normalität, das Gutmenschentum, die Political Correctness, das Gewissen, die Scham, das Lachen, der Konsens, der Common-sense, der gesunde Menschenverstand, die Kerninstitutionen Justiz und Kirche, die Journalisten und Medien ist Verlaß. Sie werden umstandslos und unversehens zu Agenten der Hölle.
Wenn man sich nach Betrachten eines TV-Films wie „Yorkshire Killer 1974“ von Julian Jarrold nach dem Roman von David Peace damit beruhigt, daß dergleichen vielleicht heute in Weißrußland geschehen mag, vielleicht sogar in Putins Rußland, aber nicht hierzulande, verpaßt man die Chance zu erkennen, daß hier die Vorgänge geschildert werden, wie sich Normalität auf Kosten eines Einzelnen konstituiert, der nicht mitspielt. Die Konstitution von Normalität, die Gewalt camoufliert, ist Thema und Denkverbot zugleich.
Dienstag, 4. Januar 2011