Sinngrenzen
„Reinmachefrauen, die zu früh in den Gerichtssaal einziehen, oder Gasthausbesucher, die statt gedeckter Tische Wahlplakate, Kabinen, Listen und offiziöse Minen vorfinden, merken sofort, daß sie sich in ein anderes System verirrt haben, das gewisse Verhaltensweisen ausschließt und andere eröffnet. Sie stören, definieren die Situation als Störung und unterstellen sich damit den Regeln des gestörten Systems. Systemadäquates Verhalten steht ihnen jedoch nicht zur Verfügung. Sie können weder da sein, noch nicht da sein. Kommunikationsversuche zur Entschuldigung würden die Störung nur verlängern. Nicht selten ist dann systematische Flucht die einzige Möglichkeit, dem gestörten System die Reverenz zu erweisen.“ Niklas Luhmann zufolge (Legitimation durch Verfahren) sind Grenzen nicht unbedingt materialisiert und sichtbar. als „Sinngrenzen“ trennen sie soziale Schichten, Berufswelten, Handlungsvollzüge, Situationen voneinander, ja Teile meiner selbst. Sie können meine Lebenswelt durchkreuzen und selbst miten durch meinen Körper verlaufen, und ich kann mich entweder diesseits oder jenseits von ihnen befinden. Sie können ein- und ausschließen.
Wir sind gewohnt und dazu erzogen, Grenzen als Orte der Interaktion unerschiedlicher Lebensformen zu begreifen. Das hermeneutische Verständnis von Grenzen als kulturelle Nahtstellen, an denen wechselseitiger Austausch stattfindet, deren Seiten in osmotischem Verhältnis zueinander stehen, verbirgt womöglich die tatsächliche Undurchlässigkeit der Sinngrenzen, auf die Luhmanns Beispiel hinweist. Die englischen Pragmatisten kamen dem von Luhmann angesprochenen Phänomen näher, indem sie von Grenzen im Sinne von Rändern monadischer Einheiten oder Bewußtseinskästen sprachen. Luhmanns am Pragmatismus orientierter Systemtheorie zufolge kann ein System in einem anderen nur die eigene Umwelt mit reduzierter Komplexität erkennen. Eine Kommunikation zwischen zwei Systemen sei prinzipiell nicht möglich. Trotz der Feststellung, daß communication took command, leben wir demnach in derselben Welt wie archaische Eingeborenenstämme im Herzen Afrikas, sind wir über deren primitives Entwicklungsstadium nicht hinausgekommen.
Dienstag, 4. Januar 2011