Zwang
Lesungen der "Werkstatt für potenzielle Literatur" OuLiPo in Paris sind ein Renner. Man lacht, weil man staunt, wie es dem Autor gelingt, sich wie Houdini selbst zu entfesseln. Von George Perec stammt die Definition: „Der Oulipien ist eine Ratte, die versucht, aus ihrem selbst gebauten Labyrinth wieder herauszukommen“.
Gemäß der Statuten ist es obligatorisch, daß zu Beginn eines jeden Treffens ein neu ersonnener Zwang vorgestellt wird, dem sich alle zu unterwerfen haben. Die Voraussetzung für oulipotische Schöpfung ist ein selbst auferlegter Formzwang, ein Contrainte. Das bekannteste Beispiel ist Perecs Roman 'La Disparition', in dem der Autor auf die Verwendung des meistverwendeten Vokals "e" verzichtet. Andere prominente Beispiele sind Jacques Roubauds Roman "Der Verwilderte Park" sowie sein Roman von der „Schönen Hortense“ oder Anne Garrétas "Sphinx", der eine Liebesgeschichte erzählt, ohne daß das Geschlecht der beiden Liebenden jemals eindeutig zu erkennen wäre.
Paradoxerweise scheint der Zwang frei zu machen, die Kreativität nicht einzuschnüren oder abzuwürgen sondern ihre Entfaltung allererst zu ermöglichen. freizusetzen.
Raymond Queneau, der mit seinen Permutationen ebenfalls berühmt gewordene Beispiele der Befreiung und Freisetzung von Kreativität durch einengende Auflagen geliefert hat, hat den entscheidenden Hinweis auf dieses Rätsel gegeben. Er bezeichnete mit „Sonntag des Lebens“ die Befreiung von Geschichte. Diese gelingt, indem man sozusagen sich selbst Regeln setzt, nach denen man lebt und sie sich nicht von der Geschichte diktieren läßt. So wie man aus der absurden Kontingenz der Geschichte auszubrechen vermag, indem sie durch eine sinnhafte Abhängigkeit ersetzt, ist für jemanden wie Raymond Queneau Kunst der Versuch, Kontingenz zu tilgen durch sinnhafte Überbietung der Abhängigkeit vom Schicksal durch die Determiniertheit durch Mathematik. Die Abhängigkeit und Ohnmacht sind nicht getilgt, sondern ersetzt durch eine, die ich selbst geschaffen habe.
Die französische Sprache scheint für diese Praxis der Selbstversklavung besonders geeignet wegen der Vielzahl der Gleichklänge oder Homophonien (gleichklingende Formulierungen mit unterschiedlicher oder entgegengesetzter Bedeutung). Geschrieben sind sie einander zwar nicht ähnlich, wohl aber klingen sie ausgesprochen ähnlich.
Die Pointe solcher Exerzitien ist die Umkehrung der Gedankenverbindung von Freiheit und Kreativität: Zwänge befreien. Im Bereich der Architektur hat sich vor allem das niederländische Büro MVRDV mit der Gewinnung von Kreativität durch constrainte hervorgetan. Bernard Tschumi sprach von der Lust der Einschnürungen. In der Musik ist das Zwölftonsystem die prominentste Form der Kreativitätssteigerung durch Einschränkungen. Eine schier unerschöpfliche Quelle von Techniken bieten die Schriften und Zeugnisse der Situationisten.
Dienstag, 4. Januar 2011