Chagrinleder
Freud gewann seine Theorie über eine sonderbare Arbeitsweise der Seele aus einer Theorie über das Verhältnis des Lesers zum Text. Die Eselshaut, um die es in Balzacs Roman geht, ist auch ein Schriftstück. Balzac kennzeichnet das Verhältnis Raphaels zum Tode mithilfe des Chagrinleders als ein Verhältnis zu einem Text. Dieser Theorie zufolge heiflt Lesen, den Tod aufzuschieben. Der Preis für diesen Aufschub ist allerdings, dafl die textuelle Annäherung an den Tod an einem gewissen Punkt die Lesefähigkeit beeinträchtigen und in eine
vom Tode affizierte Lektüre einmünden muß. Der konstative und der performative Charakter des auf ihm befindlichen Textes koinzidieren. Die auf dem Leder versammelten Buchstaben tun genau das, was sie besagen. Mit jeder Artikulation eines Wunsches, den sie gewähren, werden sie selber kleiner und streben der Unlesbarkeit zu. Dieses Leder wird stets kleiner, wenn ich einen Wunsch ausspreche, sagt Raphael. Emblem des Todestriebes ist die Eselshaut eine ironische Antiphrasierung des Wunsches. Die Eselshaut ermöglicht und nennt denjenigen Widerspruch zum Lustprinzip, der die Lust allererst zur Sprache bringt, um sie schließlich in tödlicher Weise zu erfüllen. Die von Roland Barthes so genannte „Lust am Text“ kann letzten Endes nicht verdecken, dafl es sich für den Protagonisten Balzacs bei dieser Lektüre zugleich um eine Krankheit zum Tode handelt. Die Leselust, die Lust, die die Lektüre der Eselshaut bereitet, wird durch fortschreitenden Realitätsverlust und schließlich durch den Tod erkauft.
Montag, 10. Oktober 2011