noch einmal Melancholia
Es ist die Geschichte zweier Schwestern. Die Beiden Schwestern verkörpern unterschiedliche Episteme. Sie wissen voneinander als liebende Schwestern. Die anderen Bewohner der beiden Denkwelten wissen jeweils nicht von der anderen. Claire verkörpert den Menschen nach dem heutigen Menschenbild und gemäß der heute geltenden Norm, den Menschen der Aufklärung, an dessen Idealbild gemessen alles Pathologische nur als Schandliste individueller Defekte registriert werden kann. Justine repräsentiert den Menschen vor der Aufklärung, der in die Narrative der Mythen und Märchen und in deren Verlaufsformen eingebunden ist. Justine wird von den Vertretern der Normalität, wie sie in der Psychotherapie-Industrie ihre Wehrmacht hat, als willens- und charakterschwach belächelt und beschimpft. Sie erweist sich aber angesichts realer Gefahr als einzige gefaßt und stark. Der Ritter der Normalität, Claires Ehemann, flüchtet vor dem Planeten, als er erkennen muß, daß seine Naturwissenschaft keinen Schutz bietet, in der embryonalen Haltung eines Säuglings aus dem Leben. Claire greift panisch nach allen technischen Sicherheitsinstrumenten und wird zum zitternden Bündel, als diese sämtlich versagen. Justine fürchtet die eingebildeten, imaginären Gefahren ihrer „Depression“, aber reale Gefahr läßt sie anscheinend klar werden und geradezu aufblühen. Vielleicht verleihen sie ihr die Fähigkeit, sich selbst zu fühlen und einen Kontakt zur Realität zu genießen. Vielleicht hat sie bloß keinen Sinn für reale Gefahren, als würde sie sie nicht ernst nehmen können, fühlt sie die reale Gefahr gar nicht. Im Unterschied zu Claire weiß sie bereits, daß man im Kosmos allein ist. Im Unterschied zu Claire ist für sie diese Erkenntnis nichts Neues. Daß es kein Leben auf anderen Planeten gibt, weiß sie seit ihrer frühsten Kindheit aus der Erfahrung mit ihren Eltern: Die Mutter war als Mutter eine komplette Versagerin, dominant und kaltherzig, wenn sie auch als Mensch erfrischend helle sein mag. Der Vater ist schwach wie ein kleines Kind. In dieser Konstellation bilden die Eltern das Stereoptyp für Borderlinefamilien, wie die von Hänsel und Gretel. Die Gäste des vergeblich inszenierten Hochzeitsrituals sind sämtlich Idioten. Einzig Justine hat Verstand. Die Brücke, auf der die Pferde scheuen und die Autos stehen bleiben, weil sie keinen Strom mehr zu kriegen scheinen, erinnert an Bunuels „Würgeengel“ und mag auch hier den magischen Zirkel markieren, der um diese Geschichte als voraufklärerisches Narrativ gezogen sein muß. Die ins Spiel gebrachten Bilder von Breughel, Hieronymus Bosch, Dante Gabriel Rosetti bilden ein Gegenprogramm zur abstrakten Moderne der russischen Futuristen. Die magic cave, die Aunty Stealbreaker (Tante Stahlbrecher!) für Claire und deren Sohn baut, ist die Urhütte der Architekturtheorie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Was im Film als reale Gefahr auftaucht, ist freilich selbst ein Narrativ, das der Apokalypse, der Katastrophe, gegen deren Eventualität man sich abzusichern sucht, die man zu vermeiden und zu verdrängen sucht, die aber dennoch eintreten muß, die man, wie im Ödipusmythos, gerade herbeiführt, indem man sie mit allen Mitteln zu vermeiden trachtet. Dieser Widerspruch bezeichnet das Wesen des Unbewußten. Claire ist der Teil im Menschen, der sie vermeidet, Justine der Teil, der sie herbeisehnt. Der Vorfilm zeigt Bilder, die die ohnehin an Bildern der Melancholie reiche Kunstgeschichte um weitere bereichert.
Mittwoch, 19. Oktober 2011