Hänsel und Gretel
In Märchen finden wir diese vorpsychotische Familiensituation wieder. Die Stiefmutter in Grimms „Hänsel und Gretel“ verhält sich wie eine Mutter, der die Gefühle von Angst und Feindseligkeit gegenüber dem Kind nicht akzeptabel sind, und deren Weise, sie zu leugnen, darin besteht, sich nach außen hin liebevoll zu verhalten, um das Kind zu veranlassen, auf sie wie auf eine liebende Mutter zu reagieren und um sich von ihm abzuwenden, wenn es dies nicht tut. Liebevolles Verhalten in diesem Sinne bedeutet nicht notwendig Zuneigung, sondern es kann sich beispielsweise äußern in Ratschlägen, das Richtige zu tun. Auch die weitere Bedingung, nämlich das Fehlen von irgendjemandem in der Familie, wie etwa einem starken und einsichtigen Vater, der sich in die Beziehung zwischen Mutter und Kind einschalten und das Kind angesichts der aufgetretenen Widersprüche unterstützen kann, ist im Pinocchio erfüllt.
Daß eine Mutter gegenüber einem Kind solche kaschierten Empfindungen hat, kann verschiedene Gründe haben. Möglicherweise löst allein schon die Tatsache, ein Kind zu haben, in ihr Angst vor sich selbst und ihren Beziehungen zu ihrer eigenen Familie aus. So ist anzunehmen, daß sie immer zumindest zwei Arten von Mitteilungen gleichzeitig ausdrücken wird. Diese lassen sich grob charakterisieren als a) feindseliges oder abwendendes Verhalten, das sich immer einstellt, wenn sich das Kind ihr nähert, und b) simuliertes liebevolles oder annäherndes Verhalten, zu dem es kommt, wenn das Kind auf ihr feindseliges oder abwendendes Verhalten reagiert, womit sie zu leugnen versucht, daß sie sich zurückzieht. Sie hat das Problem, ihre Angst dadurch zu kontrollieren, daß sie Nähe und Distanz zwischen sich und dem Kind kontrolliert. Wenn die Mutter anfängt, sich ihrem Kind zugetan und nah zu fühlen, fühlt sie sich zugleich auch gefährdet und muß sich von ihm abwenden; aber sie kann diesen feindseligen Akt nicht akzeptieren, und um ihn zu verleugnen, muß sie Zuneigung und Nähe simulieren. Entscheidend ist hier, daß dabei ihr liebevolles Verhalten das feindselige kommentiert (da es dessen Kompensation ist) und folglich einer anderen Art von Mitteilung entspricht als das feindselige Verhalten – es ist eine Mitteilung über eine Abfolge von Mitteilungen. Doch es verleugnet seiner Natur nach die Existenz derjenigen Mitteilungen, auf die es sich bezieht, d.h. die feindselige Abwendung.
Die Mutter verwendet die Reaktionen des Kindes, um sich zu bestätigen, daß ihr Verhalten liebevoll ist, und da das liebevolle Verhalten simuliert ist, wird das Kind in eine Lage gebracht, in der es ihre Kommunikation nicht genau interpretieren darf, wenn es seine Beziehung zu ihr nicht gefährden will. Mit anderen Worten, es darf nicht genau zwischen Arten von Mitteilungen unterscheiden, in diesem Fall zwischen dem Ausdruck simulierter Gefühle und den tatsächlichen Gefühlen. Im Ergebnis muß das Kind seine Wahrnehmung metakommunikativer Signale systematisch verzerren.
Kommen in der Mutter etwa feindselige (oder zärtliche) Gefühle gegenüber dem Kind auf und verspürt sie auch den Zwang, sich von ihm abzuwenden, dann könnte sie sagen: Geh ins Bett, du bist sehr müde, und ich möchte, daß du deinen Schlaf bekommst”. Mit dieser nach außen hin liebevollen Bemerkung soll ein Gefühl geleugnet werden, das man so in Worte fassen könnte: “Geh mir aus den Augen, ich kann dich nicht mehr sehen”. Würde das Kind ihre metakommunikativen Signale richtig unterscheiden, so wäre es mit der Tatsache konfrontiert, daß sie es sowohl ablehnt als auch mit ihrem liebevollen Reden täuscht. Es würde dafür “bestraft”, zu lernen, wie man Arten von Mitteilungen richtig voneinander unterscheidet. Das Kind wird also dazu neigen, eher die Vorstellung zu akzeptieren, daß es müde ist, als die Täuschung seiner Mutter zu durchschauen. Dies bedeutet, daß es sich selbst über seinen eigenen inneren Zustand täuschen muß, um die Mutter in ihrer Täuschung zu unterstützen. Um mit ihr zu überleben, muß es sowohl seine eigenen inneren Mitteilungen als auch die Mitteilungen anderer falsch unterscheiden.
Das Problem verschärft sich noch für das Kind, da die Mutter so “gütig” ist, für es zu definieren, wie es empfindet; sie legt mütterliche Sorge wegen der Tatsache an den Tag, daß es müde ist. Anders gesagt, die Mutter kontrolliert sowohl die Definition, die das Kind seinen eigenen Mitteilungen gibt, als auch die Definition seiner Reaktionen ihr gegenüber (z.B. indem sie auf seine Kritik an ihr sagt: “Das meinst du ja gar nicht wirklich so!”), wobei sie darauf beharrt, daß es ihr nicht um sie selbst geht, sondern einzig um ihr Kind. Für das Kind ist es daher das leichteste, das simuliert liebevolle Verhalten der Mutter für bare Münze zu nehmen, wobei sein Verlangen zu interpretieren, was vor sich geht, unterhöhlt wird. Die Folge ist jedoch, daß sich die Mutter von ihm abwendet, und diese Abwendung als den Idealfall einer Liebesbeziehung definiert.
Das simuliert liebevolle Verhalten der Mutter für bare Münze zu nehmen, ist allerdings für das Kind auch keine Lösung. Träfe es diese falsche Unterscheidung, dann näherte es sich ihr; diese Annäherung würde in ihr Empfindungen der Furcht und Hilflosigkeit auslösen, und sie wäre gezwungen, sich abzuwenden. Zöge es sich dann aber von ihr zurück, dann würde sie diese Abwendung als einen Vorwurf auffassen, daß sie keine liebevolle Mutter sei, und das Kind entweder für die Abwendung bestrafen oder sich ihm nähern, um es enger an sie zu bringen. Käme es daraufhin näher, dann würde sie damit reagieren, daß sie wieder Distanz herstellt. Das Kind wird bestraft, wenn es genau unterscheidet, was sie ausdrückt, und es wird bestraft, wenn es nicht genau unterscheidet – es ist in einem double bind gefangen.”
In jeder normalen Beziehung besteht ein ständiger Austausch von metakommunikativen Mitteilungen, wie etwa: “Was meinst du damit?”, “warum hast du das getan?” oder: “Nimmst du mich auf den Arm?” usw. Das betroffene Kind aber wächst auf, ohne die Fähigkeit zu erlernen, über Kommunikation zu kommunizieren, oder besser: ohne die Erfahrung, hierzu die Erlaubnis zu haben, und folglich lernt es auch nicht, zu bestimmen, was Leute tatsächlich meinen, es erwirbt auch nicht die für normale Beziehungen unabdingbare Fähigkeit, auszudrücken, was es selbst tatsächlich meint. Genauer: es lernt nicht, das angeborene Wissen hierum selbstbewußt auch einzusetzen, zu kultivieren und zu genießen.
In Kristevas Worten ist die semiotische Sprachebene grundlegend gestört und ihre Entwicklung blockiert. Das Kind wird durch das Verhalten der Mutter von intimen und sicheren Beziehungen zu seiner Mutter abgeschnitten. Jedenfalls wird es in einer Beziehung, die für sein Leben von größter Bedeutung ist und die das Modell für alle weiteren Beziehungen darstellt, ständig bestraft, ob es nun Liebe und Zuneigung zeigt oder nicht. Und seine Fluchtwege aus dieser Situation, wie etwa das Erlangen von Unterstützung durch andere, sind ihm abgeschnitten.
Freitag, 21. Oktober 2011