Gewalt
Wenn es im vorigen Spiegel heißt, Gewalt habe abgenommen, liegt das vielleicht nur daran, daß sie unsichtbar geworden ist. Dies vermutet Harald Staun in der FAZ vom Sonntag 21.10.11., indem er Befunde von Steven Pinker, berühmt geworden durch seine „Neue Geschichte der Menschheit“, Überlegungen von Byung-Chul Han gegenüberstellt. Pinker fordert auf, sich zu vergegenwärtigen, welcher Einfallsreichtum die Gewaltkünstler in Antike und Mittelalter an den Tag legten, reinste Splattermovies nach heutigen Maßstäben. Aber vielleicht ist er nur blind für Phänomne psychischer, politischer, symbolischer Gewalt. Byung-Chul Han behauptet nämlich, der Gewalt komme lediglich der Schauplatz abhanden. „Sie ist nun nicht mehr Teil politischer und gesellschaftlicher Kommunikation. Sie zieht sich in subkommunikative, subkutane, kapillare, innerseelische Räume zurück. Sie verlagert sich von Sichtbaren uns Unsichtbare, vom Direkten ins Diskete, vom Physischen ins Psychische, vom Martialischen ins Mediale und von Frontalen ins Virale.“ Das Ich richtet den Kampf gegen sich selbst. Burn-Out und Depression, die psychischen Krankheiten der spätmodernen Leistungsgesellschaft, sind nicht länger die Folge äußerer Repression (wie noch die Hysterie und die Zwangsneurose), sondern ein Resultat autoaggressiver, positiver Zwänge. „An die Stelle der fremdverursachten Gewalt tritt eine selbstgenerierte Gewalt, die fataler ist als jene, denn das Opfer wähnt sich in Freiheit.“
Dienstag, 25. Oktober 2011