Wakefield & Co
Dem Helden von Charles Chadwicks: "Ein unauffälliger Mann" (It’s alright now) Tom Ripple geschieht es, daß er seine Frau "trotz ihrer Fehler" nicht mehr liebt, eines Tages "keine Familie mehr um sich" hat. Die einzige Erklärung, die angeboten wird, ist daß Zeit vergeht und noch mehr Zeit vergeht. Er bleibt künftig allein und verliert seinen Job. Der Privatdetektiv Sam Spade wird in Dashiell Hammetts „Der Malteser Falke“ angeheuert, um einen Mann zu finden, der ganz plötzlich seinen ruhigen Job und seine Familie aufgegeben hat und einfach verschwunden ist. Spade kann ihm nicht auf die Spur kommen, entdeckt ihn aber zufällig einige Jahre später in einer Bar in einer anderen Stadt. Unter falschem Namen führt er dort ein Leben, das dem, vor dem er geflohen war, erstaunlich ähnelt. Dessen ungeachtet ist er aber davon überzeugt, daß sein Neuanfang nicht vergeblich war. Vielleicht hat sich in dem Wechsel, dem Übergang doch etwas Wichtiges ereignet, das durch die anschließende Renormalisierung verdeckt und auch nicht reflektiert wird. Zizek spricht vom „verschwindenen Vermittler“, der sich auch zum Verschwinden bringen muß. In Nordafrika wird man abwarten müssen, ob die Renormalisierung ähnlich verlaufen wird. Ob die Utopisten verspottet werden, oder ob die Begeisterung für etwas Neues noch einmal aufgesucht werden muß.
Zunächst aber enthalten die Geschichten von demjenigen, der sein Leben und seinen angestammten Platz verläßt und verschwindet, eine tiefe Verstörung. Patricia Highsmith beobachtet ihre Geschöpfe, wie sie ein paar Zentimeter neben sich treten, wie in einem verwackelten Photo, und sich dadurch in fatale Mechanismen verstricken, und sie erlaubt niemandem, sich aus ihnen zu befreien. Je mehr sich eine ihrer Kreaturen loszustrampeln versucht, desto tiefer versinkt sie. Unzählige Male wird dieses Motiv vor allem in der amerikanischen Novellistik variiert, und auch in einigen jüngeren amerikanischen Filmen taucht es auf. In einem Film von John Demme entfernt eine Zufallsbekanntschaft einen biederen Angestellten und Familienvater auf einer „Abkürzung“ auf dem Weg ins Büro meilenweit von seinem bisherigen Leben. Verläßt ein braver Mann nur wenige Schritte weit sein Revier, so die Moral, drohen ihm faszinierende Gefahren im Großstadtdschungel, die den Horizont erweitern können, sich bei Martin Scorsese allerdings zur existentiellen Krise ausweiten.
Luigi Pirandello erzählt von einem Mann, der seine Identität wechseln, der seinen Platz verlassen wollte, um als ein anderer weiterzuleben. Als er jedoch eines Tages in seine alte Existenz zurückkehren möchte, belehrt ihn sein Nachfolger in der Bibliothek, wo er einst gearbeitet hatte, „daß es unmöglich ist, außerhalb des Gesetzes und außerhalb der uns eigenen glücklichen oder unglücklichen Verhältnisse zu leben, durch die wir ... erst das sind, was wir sind“. Den Platz, den wir im Kosmos zugewiesen bekommen haben, dürfen nicht ungestraft verlassen. Andererseits gilt die Molluskenexistenz derer, die ihren Ort nie verlassen, wie bei Karl Marx, als fluchbeladen. Den Ort, an den das Schicksal einen Menschen gestellt hat, zu verlassen, bedeutet zum einen Befreiung, zum anderen markiert dies den Beginn der Katastrophe.
Hawthorne berichtet über eine lange Zeit in seinem Leben, die er mit dem Schreiben phantastischer Geschichten zubrachte. Wenn es dunkel wurde, verließ er das Haus und ging spazieren. Über diese „heimliche“ Lebensweise“, die zwölf Jahre dauerte, schrieb er: „Ich habe mich eingeschlossen, ohne es im geringsten beabsichtigt zu haben, ohne den geringsten Argwohn, daß mir dies zustoßen würde. Ich habe mich in einen Häftling verwandelt, habe mich in ein Verlies gesperrt, und jetzt weiß ich schon nicht mehr, wo der Schlüssel ist, und selbst wenn die Tür offen stünde, hätte ich fast Angst davor hinauszugehen.“ manche behaupten, Nathaniel Hawthorne sah sich zeitlebens als Gefangener in seinem Zimmer. Wenn er im Laufe seines Schriftstellerlebens Tausende von täglichen Eindrücken notierte, dann tat er dies, nach Borges Meinung, „um sich selber ein reales Dasein zu beweisen, um sich auf irgendeine Art von dem Irrealitäts- und Gespenstergefühl zu befreien, das ihn heimzusuchen pflegte.“ Gleichwohl hat Hawthorne hat das Schicksal, das möglicherweise jenen droht, die ihren Ort verlassen, die ihre Grenzen überschreiten, mit einer sachlichen Härte beschrieben, die durch die Belanglosigkeit des Handelns und die Bedeutungslosigkeit der Person noch gesteigert wird.
Eine seine seltsamsten Erzählungen handelt von einem Manne namens „Wakefield“, der eines Tages seine Frau ohne jeden ersichtlichen Grund verließ und sich eine Straßenecke von seinem Haus entfernt einmietete, wo er zwanzig Jahre lang verborgen lebte, in denen er beinah jeden Tag an seinem Haus vorbeiging, bis er eines Tages zurückkam und sein bisheriges Leben fortsetzte, ganz so, als wäre er nur ein paar Stunden fort gewesen. Aber da war er bereits tot, und bald darauf sollte er tatsächlich sterben.
Der Autor spekuliert wortreich darüber, was die Personen im Moment des Abschieds im Einzelnen gedacht haben könnten. Wakefields Frau hätte ihren Mann wahrscheinlich gern gefragt, wie lange die Fahrt dauern, wohin sie ihn führen und wann ungefähr er wieder zurückkommen werde. Aber aus Rücksicht auf seine harmlose Neigung zum Heimlichtun wirft sie ihm nur einen fragenden Blick zu. Darauf hat er ihr möglicherweise gesagt, sie möge ihn nicht unbedingt mit der Retourkutsche erwarten, noch sich aufregen, sollte er drei oder vier Tage ausbleiben, jedenfalls aber für Freitag zum Abendessen mit ihm rechnen. “Wakefield selber, das dürfen wir nicht vergessen, weiß durchaus nicht, was ihm bevorsteht. Er streckt die Hand aus, sie gibt ihm die ihre und erwidert seinen Abschiedskuß mit der Selbstverständlichkeit einer zehnjährigen Ehe; und fort geht Mr. Wakefield, ein Mann mittleren Alters, fast schon entschlossen, seine brave Frau durch eine volle Woche Abwesenheit zu verblüffen...”
Die Großstadt London diente dazu, diesen Mann zu verstecken, so daß er sein Doppelleben so lange unentdeckt führen konnte. Sie hat auch diese erbärmliche Sonderbarkeit hervorgebracht, diesen Kontrast zwischen der bodenlosen Mittelmäßigkeit des Helden und der Größe seines Verderbens. Im Zentrum von London, von niemandem sonst bemerkt, hat sich die Welt aus den Angeln gehoben. Ohne gestorben zu sein, hat ein Mann auf seinen Platz in der Welt und auf seine Rechte unter den Lebenden verzichtet, und das nicht einmal in der Aussicht auf ein anderes, glanzvolleres, abenteuerliches Leben. Hawthornes Schlußworte sind: „In der anscheinenden Unordnung unserer geheimnisvollen Welt ist jeder Mensch mit so ausgesuchter Strenge einem System eingepaßt - und die Systeme ineinander und alle ins Ganze - daß der einzelne, wenn er auch nur einen Augenblick von seiner Bahn abweicht, sich dem furchtbaren Zufall aussetzt, seinen Ort für immer zu verlieren. Er setzt sich dem Zufall aus, der Paria des Universums zu werden - wie Wakefield.“ Die Erzählung handelt auch von der Unwiderruflichkeit, die Entscheidungen annehmen können, seien sie auch noch beiläufig und ohne bestimmte Absicht getroffen worden, durch eine unscheinbare Handlung, ohne daß man es selbst recht bemerkt hätte.
Hawthorne läd den Leser ein zu ergründen, was für ein Mensch Wakefield wohl sei. Er verweilt einen Augenblick bei der Frau, die das Gesicht ihres Mannes in Erinnerung behält und jahrelang versucht, sein Lächeln zu deuten. Aber sie ist nicht sein eigentliches Thema. Wakefield erwägt nach einer Woche zurückzukehren, aber er weiß nicht wie. Er dachte immer wieder daran, schnellstens zurückzukehren, und wußte doch, daß er sich das seit zwanzig Jahren sagte. Eine Rückkehr wäre nur noch denkbar als etwas Ungeplantes und Sprachloses. This happy event--supposing it to be such--could only have occurred at an unpremeditated moment. Nach einer Weile kehrt Wakefield zurück. Es gibt für das Wegbleiben genauso wenig Grund wie für das Bleiben. Und da seine Frau genauso sprachlos bleibt und auf die gewohnte Sprachexplosion der Verlassenen verzichtet, sieht es so aus, als wäre nichts gewesen. Aber natürlich kann nichts wieder so sein wie vorher. Wir lesen diese Wendung mit Grauen.
In der Borderline-Diagnostik spricht man von “dissociative fugue”: Hierunter wird das unerwartete Fortgehen aus der gewohnten Umgebung (Zuhause, Arbeitsplatz) verstanden, das bis zur Annahme einer neuen Identität bei gleichzeitiger Desorientiertheit zur eigenen Person führen kann. (Man könnte es Wakefield-Syndrom taufen)
Mittwoch, 26. Oktober 2011