wir sind Teil des Bildes
Jan Vermeers „Ansicht von Delft“ wurde zum Anlaß eines kunsttheoretischen Diputs. Die Stadt werde hier nicht begriffen oder erfaßt, sondern sei einfach da zum Anschauen. Der Beschauer, der weder in bestimmter weise lokalisiert ist noch irgendwelche Spuren seiner Anwesenheit hinterläßt, scheint gar nicht zu existieren. man formulierte die Ansicht, daß noch nie eine Malerei der später erfundenen Fotografie so nahe gekommen sei. Daß das Bild reine Natur zeige, hilft bei Kunst freilich nicht weiter. Vielen schien es, als würden visuelle Phänomene ohne Dazwischentreten eines Menschen, der sie erzeugt, eingefangen und vergegenwärtigt. Fromentin formulierte es paradox, wenn er sagte, die holländischen Maler brächten eine kunstlose Kunst hervor. Solche Stimmen waren allerdings Ausnahmen in einer vorwiegend negativen und herablassenden Beurteilung. Man zieh den Künstler und die Holländer insgesamt der Unfähigkeit, dergleichen ohne das Hilfsmittel der Camera Obscura fertigzubringen. Sie hätten ihr Sujet lediglich abgemalt, so wie man Vorlagen kopiert. Wenn man freilich den Gebrauch der Camera obscura unterstellt, müßte man sie und ihre Eigenschaften als Quelle des Stils anerkennen. Der Maler kopiert die Eigenschaften dieses Apparats. 87 Diese Mühe allerdings machte man sich nicht. Die Urteile spiegeln nur den Verdacht der Unredlichkeit, den man gegenüber der niederländischen Kunst generell hegte, als ein Schnellverfahren für den ungeschulten Künstler. Wenn man sich nicht, wie die italienischen Künstler, darauf versteht, ein perspektivisches Bild geometrisch herzustellen, dann kopiert man das Bild der Camera obscura. Das dünkelhafte Urteil verrät nur die Unsicherheit darüber, wie die Camera obscura die Welt wiedergibt. Man meinte, sie liefere unmittelbar empirische Zeugnisse der sichtbaren Welt. Statt mit einer unmittelbaren Begegnung mit der Natur haben wir es in den Niederlanden jener Zeit aber mit einem großen Vertrauen in optische Apparate zu tun, in Vermittlungsinstanzen, welche für uns die Natur darstellen. Mit der Entwicklung optischer Geräte ging die Erforschung der Beschaffenheit und Arbeitsweise des menschlichen Auges einher. Indem Kepler das menschliche Auge selbst als einen mechanischen Erzeuger von Bildern und das Sehen als Bildermachen definiert, liefert er uns das Modell, das wir brauchen, um Vorfinden und Herstellen, Natur und Kunst in jener Weise zu verknüpfen, die für das Bild des Nordens charakteristisch ist.“ Die Beziehung zwischen Keplers optischen Entdeckungen, die in ingeniöser Weise, in Holland zur Erfindung optischer Werkzeuge führte, und der holländischen Kunst ist das Thema von Alpers. Sie nahm Kepler beim Wort, der das Sehen als Erzeugung eines Netzhautbildes definierte, das er als Bild oder Gemälde bezeichnete. Sie findet in der holländischen Kunst eine Reihe von Bildelementen, die sich verbinden, um die Erscheinung einer Welt hervorzubringen, deren Existenz von uns als den Betrachtern unabhängig ist: unter anderem den Umstand, daß das über die Bildfläche gebreitete Abbild als grenzenloser Ausschnitt einer Welt erscheint, die sich jenseits der Leinwand fortsetzt, i.U. zum Konzept Albertis, der einen vorgängigen Rahmen als Ausgangsdefinition des Bildes anbietet. Kepler unternahm es, das Auge als optisches System zu begreifen und dessen Mechanismus vom Betrachter, von der Person die sieht, dem Weltbeobachter zu trennen. Seine Leistung war, das physikalische Problem der Entstehung von Netzhautbildern von den psychologischen Problemen der Wahrnehmung zu trennen. Was vorher und nachher geschieht, betraf seine Untersuchung nicht. Er spricht von einer Welt, die sich selbst mit Licht und Farben im Auge abbildet. Er spricht von der Netzhaut als etwas, das mit farbigen Strahlen sichtbarer Dinge bemalt worden sei. Womit dieses Gemälde ausgeführt wird, nennt er Pinselchen. Mit Pinseln, wie die Künstler sie benutzen, wird auf der undurchsichtigen Haut des Augenhintergrundes gemalt. Sowohl Optiker als auch Kunsttheoretiker übernahmen Keplers Konzeption. Hoogstraten etwa schrieb, die Maler des Nordens seien daran interessiert, „wie die sichtbare Natur sich selbst in einer besonderen Weise darbietet“. Um den Unterschied zur italienischen Erfindung der Perspektive deutlich zu machen, stellt Alpers das holländische Konzept dem Albertis gegenüber. Albertis Konzept beginnt nicht mit der gesehenen Welt sondern mit dem Betrachter, der aktiv nach Gegenständen Ausschau hält, vorzugsweise menschlichen Figuren, die sich im Raum befinden und deren Erscheinung eine Funktion ihres Abstands vom Betrachter ist. Das Bild etwa bei Dürer, der Albertis Konzept übernimmt, ist nicht Moment des Sehens, sondern eine Konstruktion des Künstlers, ein Schnitt durch die Sehpyramide. Dieses Bild wird im Namen der Darstellung bedeutsamer menschlicher Handlungen angefertigt. Das Konzept des vorgängigen Betrachters, wie man es auch nennen könnte, entspringt einem aktiven Vertrauen in menschliche Kräfte. Der Primat des Menschen als Maß aller Dinge, der mit der Vorgängigkeit und Aktivität des Betrachters korrespondiert, steht das holländische Konzept gegenüber, bei dem man Wert darauf legt, die Aufmerksamkeit auf die vielen kleinen, unbedeutenden Dinge zu legen, auf das von Gegenständen reflektierte Licht. Bei dem Wert darauf legt, Gegenstände als etwas anzusehen, das von Licht und Schatten modelliert ist, auf die Betonung der Oberfläche, ihre Farbe und Materialität, anstelle ihrer Lokalisierung in einem klar erfaßbaren Raum. Zu dem Konzept gehört ein rahmenloses statt eines gerahmten Bildes, ein Bild, das keinen eindeutig lokalisierten Betrachter hat. Der Unterschied ist Alpers zufolge nicht einer zwischen Naivität und Reflektiertheit, sondern er sei ein Gegeneinander zweier gleichermaßen reflektierter Theorie und Methoden. Während man allgemein der Auffassung ist, daß es bei den Italienern darum gehe, einen Sachverhalt so präzise wie möglich mitzuteilen, und die Niederländer beglückwünscht, daß sie ihre Augen so unvoreingenommen wie möglich benutzten, betont Alpers, daß es sich um zwei verschiedene Methoden handele, die Welt zum Bild zu machen. 109 Die Holländer arbeiteten damals an Darstellungsmethoden, um den Gesichtskreis in eine kleine flache Bildfläche zu übersetzen. Der Gebrauch des holländischen Wortes für Perspektive deurzigtkunde meint entspechend nicht die Darstellung eines Gegenstandes mit Rücksicht auf seine Beziehung zum Betrachter, sondern die Art und Weise, wie die Erscheinungen auf der Bildoberfläche widergegeben werden. Saenredam ist oft nachgesagt worden, daß er sich einer freien Handhabung der Linearperspektive bedient habe. Das zeigt, daß man etwas Irritierends in seinen Bildern duchaus wahrnahm, es aber nicht erklären konnte. Meist handelt es sich um eine Weitwinkelansicht. Die Zeichnung der Nordchores der Burenkirche in Utrecht verbindet zwei Ansichten in einem Bild. Von dem von Saenredam bezeichneten Augenpunkt aus ist es unmöglich, die rechte und die linke Hälfte es Bildes gleichzitig zu sehen, ohne Kopf und Augen zu bewegen. Es handelt sich hier nicht um ein Albertisches fiktives gerahmtes Fenster, durch das wir in das Innere der Kirche blicken. Auch wenn später die Zeichnung Grundlage für zwei Gemälde wird, behält in beiden Ansichten das Gesehene vor dem Betrachter den Vorrang. Die Zeichnung ist die Sache selbst. Wir betrachten in den Gemälden eine Achitektur, deren Betrachten in der Darstellung schon festgehalten war. So könnte man sagen, daß es sich nicht um Architekturansichten handelt, sondern „um Ansichten von Architekturansichten“. Alpers spricht von dargestelltem Sehen. Saenredam verwendete, wie Alpers Analysen zeigen, die eigentümliche Distanzpunktkonstruktion als Variante der Perspektive: ein geometrisches Verfahren, die Welt in ein Bild zu übersetzen, ohne dafür einen Betrachter oder eine Bildfläche zu bemühen, ohne auf Albertis Bilderfindung zurückzugreifen, getreu der von Kepler inspirierten Auffassung, die Darstellung sei eine Wiedergabe des Sehvorgangs. Das Auge des Betrachters, das bei Alberti vorher da ist und außerhalb der Bildfläche bleibt, und der einzige zentrale Fluchtpunkt, auf den es durch Abstand und Position bezogen ist, haben hier ihre Entsprechung in Bezugspunkten innerhalb des Bildes. Der erste Augenpunkt ist auf jeder Seite im gleichen Abstand mit zwei Distanzpunkten verbunden, von denen aus die Gegenstände im Bild gesehen werden. Diese Punkte sind eher Funktionen der gesehenen Welt als vorweg gegebene Orte, an welchen der Betrachter situiert ist. Diese drei Punkte beziehen sich ausschließlich auf Figuren und Gegenstände im Bild, nicht auf einen Betrachter außerhalb des Bildes. Die Darstellung von Figuren wird mit ihren eigenen Augen gesehen. „Treten Figuren ins Bild, so sind sie Gefangene der gesehenen Welt, gefesselt wie Gulliver in den Sehlinien, die sie situieren. Die vielen Augen und die gesehenen Dinge, die solche Flächen füllen, bringen eine synkopierte Wirkung hervor. Es gibt für uns keine Möglichkeit, zurückzutreten und einen homogenen Raum zu erfassen.“ Die Italiener waren nicht willens, die Autorität des einzelnen Betrachters preiszugeben. In Saenredams Ansichten kommen Figuren vor, deren Blickpunkte mit dem des Künstlers zusammenfallen und die uns sehen lassen, was sie sehen (St. Bavo in Haarlem). Alpers resumiert: Malerei des Nordens: die vor uns voraus existierende Welt wird sichtbar gemacht, als die gesehene Welt schlechthin. Malerei des Südens: wir gehen der Welt voraus und gebieten über ihre Gegenwart. Das italienische Gemälde rechnet mit der Existenz von uns als Betrachter, die schon vor dem Bild und außerhalb des Bildes existieren. Die Betrachter in Saenredams Bildern blicken nicht aus dem Bild heraus zu uns, „die gesehene Welt hat die Priorität, aber nicht weniger wir selbst. Paradoxerweise ist die gesehene Welt, die uns voraus existiert, eben das, durch dessen Blick (Maler, Prinzessin und ihr Gefolge) wir Bestätigung und Anerkennung finden. Wären aber nicht wir gekommen, um dieser Welt gegenüberzutreten und sie anzuschauen, dann hätte sich der Primat der gesehenen Welt nicht behaupten lassen.“ (Svetlana Albers) Velasquez Bild verweigert die Reduzierung auf eine einzige Lesart. Der Maler wendet sich von seiner Staffelei ab, um auf uns als Betrachter des Bildes zu blicken. Velasquez hat beide Modi zu verbinden gesucht, in der Überzeugung, daß sie untrennbar miteinander verbunden sind. Denselben Schritt, der Saenredam vom Verfahren Albertis trennt, unternimmt David Lynch mit seinen Filmen gegenüber der Filmtechnik. Im Unterschied zur üblichen Praxis, wobei eine dominierende subjektive Perspektive den narrativen Raum organisiert, bemüht sich Lynch darum, mehrere Sichtweisen parallel darzustellen. In „Dune“ verwendet er einen vielstimmigen Off-Kommentar, der simultan mit den Ereignissen verläuft, indem er die Mutmaßungen und Gefühle, Ängste etc. des Subjekts zum Ausdruck bringt. „Die Off-Stimme des Helden umfaßt die Situation nicht, sondern ist selbst in diese eingebettet, ist Teil von ihr und bringt das, was das Subjekt in ihr tut, zum Ausdruck.“ (Zizek, Tücke) Damit wird eine subjektive Perspektive ins eigentliche Zentrum der „objektiven Realität’ eingelassen. Das Verfahren unterläuft die Opposition von naivem Objektivismus und transzenentalem Subjektivismus: Weder haben wir es mit einer ‚objektiven Realität’ zu tun, die schon im Voraus gegeben ist und aus subjektiven Perspektiven betrachtet wird, noch mit ihrem transzendentalem Gegenstück, dem vereinheitlichten Subjekt, das die Realität in ihrer Gesamtheit umfassen und zu konstituieren vermag. (Zizek, Tücke) „Wir haben es mit dem paradox multipler Subjekte zu tun, die in die Realität eingeschlossen, in sie eingebettet sind und deren Perspektiven auf die Wirklichkeit gleichwohl für diese konstitutiv sind.“ Was Lynch bestrebt ist anschaulich zu machen, ist der mehrdeutige und unheimliche Status der subjektiven Illusion, die, gerade als Illusion und verzerrte Sicht der Realität die Realität konstituiert. Es ist erkenntnistheoretischer Standard, daß es keine Realität ohne Subjekt geben könne. Kants transzendentalen Idealismus zufolge gibt es keine Realität vor der setzenden Aktivität des Subjekts. Philosophen nach Kant haben versucht, die unumgehbare setzende Aktivität des Subjekts mit dessen irreduzibler verzerrenden, nicht austarierten, pathologischen Voreingenommenheit zusammenzudenken.
Wenn Malerei uns bewußt macht, daß die Realität unseren Blick schon mit umfaßt, daß er in der von uns betrachteten Szene mit enthalten ist, daß diese Szene immer schon uns betrachtet, arbeitet sie an demselben Projekt. Lacans Charakterisierung des Unbewußten als Diskurs des Anderen steht für den Blick des Anderen auf mich. „Das wahrgenommene Subjekt wird immer schon von einem Punkt aus gesehen, der sich seinen Augen entzieht.“ Die ursprüngliche Begegnung mit dem Unbewußten ist die Begegnung mit der Inkonsistenz des Anderen, mit der Tatsache, daß der (elterliche) Andere nicht wirklich Herr seiner eigenen Handlungen und Worte ist, daß er Signale aussendet, über deren Bedeutung es sich selbst nicht im Klaren ist, daß er Handlungen vollführt, deren wahrer libidinöser Tenor ihm verborgen bleibt.“ Zizek äußert auch die Vermutung, daß die sogenannte Urszene für das Kind deshalb verstörend sei, weil nicht nur das beobachtende oder belästigte Kind nicht weiß, wie ihm oder was da geschieht, sondern weil es den Eindruck gewinnt, daß auch die Handelnden nicht wissen, was sie tun. „Was das beobachtende/schikanierte Kind erstaunt, ist die Tatsache, daß es Zeuge einer Szene wird, die offensichtlich auch für die aktiv handelnden, erwachsenen Übeltäter unergründlich bleibt...“. Daß sie für die Eltern selbst undurchdringlich bleibt, liegt wiederum am Blick des Kindes, den sie selbst internalisiert haben. Das Bemerkenswerte an der Urszene oder der Szene der ursprünglichen Verführung ist dann nicht, daß die Eltern zufällig die Grenzen des Kindes verletzen und durch ihr Genießen das Gleichgewicht des Kindes stören. Die sexuelle Zurschaustellung der Eltern ist auf gewisse Weise nur für den Blick des Kindes da. Der unvorbereitete Blick des Kindes, das von der Zurschaustellung der Sexualität traumatisiert wird, begründet seinerseits die Erwachsenensexualität. Es gebe keinen Sex ohne den erstaunten, verblüfften Blick, der vom Unheimlichen dessen, was da vor sich geht, schockiert und traumatisiert wird. Wir sind nur deshalb erwachsen, weil wir Kinder geblieben sind. Der schmerzhaft traumatische Charakter des Sex läßt sich von diesem nicht abziehen, ohne die Sache selbst zu vernichten. Ohne die phantasmatische Unterstützung durch eine Szene, die ein Partialobjekt einbezieht, die etwas Perverses an sich hat, gibt es keine Erregung. Man sollte die Künste daraufhin durchforsten, wie sie diesem Umstand Rechnung tragen, indem sie die zum größten Teil christlich basierte Ikonographie in Richtung Pornographie verwackeln.
(Slavoj Zizek, Tücke des Subjekts; Svetlana Alpers, Kunst als Beschreibung. Das Bild ist eine Ölmalerei von Marion Bataillard)
Dienstag, 25. Oktober 2011