Zeiten des Übergangs
Freuds dreistufiges hierarchisches Ich-Modell aus Ich, Es und Über-Ich gilt als Resultat der Verinnerlichung sozialer Verhältnisse und somit als Ausweis des Erwachsenseins. Nur Kleinkinder erleben jene Verhältnisse noch als fremde und externe in Gestalt der Eltern. Die soziale Existenz des Menschen ist Freud zufolge eine, die der Mensch in sich selbst hereinnimmt, die er in seinem Innern repräsentiert. Doch wenn diese Fähigkeit der Internalisierung nun lediglich die Unterstellung der Internalisierung vorauseilenden Gehorsams wäre? Vielleicht hält das Individuum die Instanzen des Sozialen nur immer solange in Reserve, wie es kein Übertragungs-Gegenüber hat. Und sobald wieder ein Übertragungspartner oder Sozius zur Verfügung steht, breitet sich das Relationsschema wieder auf zwei Personen und den imaginären Großen Anderen aus. Jeder Schüler sucht seinen Lehrer, jedes Kind seine Eltern, jeder Patient seinen Arzt, jeder Mensch seinen Liebespartner, jedes Volk seinen Souverän, Personen suchen einen Autor. Die Interaktions-Realität braucht ihre Puppen für die Zeiten des Übergangs, so wie gemäß des theologisch-politischen Konzeptes des mittelalterlichen Königtums der König für die kritischen Übergänge neben seinem sterblichen Körper einen unsterblichen zweiten Körper brauchte, um die Kontinuität der Herrschaft und damit des Kosmos zu sichern. (Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs)
Montag, 31. Oktober 2011