unheimlich
Was passiert, wenn ich einen Ort oder eine Straße plötzlich nicht mehr wiedererkenne und für einen Moment nicht weiß, wo ich mich befinde. Man neigt zu der Annahme, daß die Wirklichkeit von Phantasie überlagert wird, so daß sie ein alptraumhaftes verstörendes, angstproduzierendes Aussehen annimmt. Aber eher verhält es sich so, daß diese unerkennbare, unheimlich, irreal gewordene Wirklichkeit das ist, was übrigbleibt, wenn die Phantasie von ihr abgezogen ist, nachdem ihr die Stütze der sie vertraut machenden Phantasie entzogen wurde. Zizek behauptet, die Maskenwelt in Edward Munchs oder James Ensors Bildern oder Schumanns „Carnaval“ (nach ETA Hoffmann) sei kein Universum der reinen, von der Realität losgelösten, wildgewordenen Phantasie, sondern die Darstellung der Dekomposition des phantasmatischen Rahmens. (Zizek, Tücke des Subjekts, S. 74) Wo er ganz wegfällt, bleiben entsubjektivierte lebende Tote, schwächliche Gespenster, Masken, bei denen man niemals weiß, was oder wer sich hinter ihnen verstecken mag und über uns irrwitzig lacht, eine schleimige Lebenssubstanz oder eine gnadenlose Maschine. Lacans „Durchqueren des Phantasmas“ bedeutet nicht: die Phantasmen loswerden, die illusorischen Falschwahrnehmungen und Vorurteile, die unsere Sicht auf die Realität trüben, und endlich lernen, mit der Realität selbst zu leben, wie sie wirklich ist, die Produkte unserer Phantasie hinter uns zu lassen, die Phantasieproduktion zu drosseln, sondern lernen, uns gründlicher mit dem Werk unserer Einbildungskraft zu identifizieren, in all seiner Inkonsistenz, noch vor der Transformation in den symbolischen Rahmen, der unseren Zugang zur Realität gewährleistet. Dieser unserer Einbildungskraft werden wir gewahr in solchen Momenten der Irritation. Die Konstitutionsarbeit des Subjekts versagt nicht, so daß das Reale vor ihrer Wirksamkeit als solches sichtbar würde, sondern wir sind mit unserer Konstitutionsleistung vor ihrer Einbettung in das symbolische Universum konfrontiert, also mit uns selbst. Wir befinden uns im Raum der ursprünglichen wilden Einbildungskraft, der Spontanität in Reinform, vor ihrer Unterordnung unter ein selbst auferlegtes Gesetz. Das ängstigende „Reale“ ist nicht das Noumenale, sondern dieser Bereich ist imaginär und vom Subjekt gebildet, aber es handelt sich um Imagination, die der Identifikation als Ich-bildend vorausgeht. Ich auf Nullniveau sozusagen. Es handelt sich um die Beziehung zu einem Subjekt, das noch nicht richtig subjektiviert ist. „Ein Partner in einer Diskurssituation, der als ‚extimer‘ Fremdkörper unserer Nächster ist“. (76) Wir betreten hier den Raum der puren, radikalen Phantasie als vorzeitliche Verräumlichung. Hier begegnet uns die Leere der Subjektivität, in der wir von der Protorealität der Partialobjekte heimgesucht werden. Künstler, so vermutet Zizek, von Hieronymus Bosch bis David Lynch, waren immer wieder von der Einbildungskraft in ihrer ungeheuerlichen präontologischen Dimension fasziniert. Von dem, was in Gott selbst noch nicht Gott ist, dem göttlichen Wahnsinn: ein Murmeln des Realen, das in ein logisches Sprechen übersetzt werden muß, wie das Protosprechen des Repräsentanten der Weltraumgilde in „Dune“, der Wüstenplanet, das durch das Medium des großen Anderen transformiert werden muß. Was wir nicht aushalten, ist der Abgrund der Freiheit, der Haltlosigkeit unseres Subjektsseins. Wir sind immer schon damit beschäftigt, diesen Abgrund aufzufüllen. Wir imaginieren den Kosmos als in sich geschlossene ontologisch vollständig konstituierte Totalität. Aber den gibt es nicht. Welt ist nie reine Objektivität, sondern immer auch Subjekt. In dem Moment der Irritation blickt das Angeschaute auf uns zurück. Wenn für den Idealismus, die Wirklichkeit subjektiv konstituiert ist, nur für den Blick des Subjekts vorhanden, dann sagt Lacan, daß die Tatsache, daß es die Realität nur für das Subjekt geben kann, in die Realität selbst eingeschrieben sein muß, in Gestalt eines anamorphotischen Flecks. Dieser Fleck steht für den Blick des anderen, für den Blick qua Objekt. (107) Das wahrnehmende Subjekt wird immer schon von einem Punkt aus gesehen, der sich seinen Augen entzieht. Dies bleibt unbemerkt, solange die Phantasie genügend Energie besitzt. Mit dem phantasmatischen Stromausfall zieht sich das Ich vor der Wirklichkeit in sich selbst zurück und erleben wir den Schrecken der psychotischen Selbstkontraktion. Das Nichtwiedererkannte gleitet hinüber ins Unheimliche, Bedrohliche. Was uns bedroht, das sind freilich wir selbst. Es verhält sich wie in jenem Film, in dem ein Mörder sich in die Reihen derer einreiht, die das Opfer vor ihm beschützen wollen, indem er sich erfolgreich als Polizist ausgibt. (157f.)
(Edward Hopper. Vorbild für das Haus der Mutter in Hitchcocks „Psycho“)
Montag, 5. Dezember 2011