was ist eine freie Wahl?
Ist mir die Wahlfreiheit denn nicht nur unter der Bedingung gegeben, daß ich die richtige Wahl treffe? Könnte oder dürfte ich auch falsch wählen? Sobald ich falsch wählen würde, hätte ich keine freie Wahl getroffen, sondern eine unter eingeschränktem Urteilsvermögen, unter Einfluß, mit eingeschränkter Willensfreiheit, unter Auflagen, als Erpreßter. Aus der Antike kennen wir die freiwillige Annahme des eigenen unausweichlichen Geschicks. Das Paradox dieser Konzeption finden wir auch in der christlich-theologischen Problematik der Prädestination und der Gnade. Eine wahrhafte Entscheidung ist nicht eine zwischen einer Reihe von Gegenständen, die meine Subjektposition intakt lassen, sondern die grundsätzliche Wahl, durch ich mich selbst wähle. Diese Wahl aber setzt voraus, daß ich eine passive Haltung des Mich-selbst-wählen-Lassens einnehme. Wie Deleuze sagt: Wir wählen wirklich nur dann, wenn wir gewählt werden. Auch in der Politik ist man mit diesem Paradox konfrontiert. Wenn sich ein Subjekt als proletarischer Revolutionär selbst erkennt, wenn es sich freiwillig mit der Aufgabe der Revolution übernimmt, so erkennt es sich als von der Geschichte erwählt, ebendiese Aufgabe zu erfüllen.
Zizek erörtert die Problematik im Kontext von Louis Althussers Begriff der „Anrufung“. Im Lichte dieser „ideological interpellation“ ist Wählen immer eine Situation der „erzwungenen Wahl“, durch die das Subjekt aus dem Akt der freiwilligen Wahl des Unausweichlichen hervortritt, d.h. aus demjenigen Akt, in welchem ihm die Wahlfreiheit nur unter der Bedingung gegeben ist, daß es die richtige Wahl trifft. Wird ein Individuum zu einem Entschluß aufgefordert, so ist es „eingeladen, eine Rolle derart zu spielen, daß es scheint, als habe das Subjekt bereits darauf geantwortet, bevor es vorgeschlagen wurde, gleichzeitig aber kann die Einladung auch abgelehnt werden“. Darin liegt der ideologische Akt der Wiedererkennung, in dem ich mich selbst „je-immer-schon“ als den wiedererkenne, als der ich aufgefordert worden bin. Indem ich mich als X erkenne, nehme ich freiwillig an/wähle ich die Tatsache, daß ich je immer schon X war. Wenn ich z.B. eines Verbrechens beschuldigt werde und beschließe, mich zu verteidigen, so setze ich mich als einen freien Agenten voraus, der rechtlich für seine Handlungen verantwortlich ist. Der Kontext der Entscheidungssituation wird seinerseits durch eine Entscheidung hervorgebracht. Zunächst wird darüber entschieden, welche Arten von Unterschieden in eine gegebene Politik nicht eingeschlossen werden sollen, dann gibt es die Abgrenzung bestimmter Unterscheidungsarten, die als unzulässig bezeichnet werden. Man kann niemals vor einer Entscheidung einen „reinen“ Kontext ausmachen. Jeder Kontext ist immer schon rückwirkend durch eine Entscheidung konstituiert. Jede Entscheidung schließt eine Reihe von Möglichkeiten aus, und der Entscheidungsakt selbst wird erst durch eine Ausschließung ermöglicht. Damit wir Wesen werden, die Entscheidungen treffen. Der lacanianische Begriff der „erzwungenen Wahl“ macht dieses Paradox zum Thema. Die Wahl überschneidet sich mit einer Meta-Wahl: Man sagt mir, was ich frei zu entscheiden habe. Dies aber ist nicht Kennzeichen eins psychopathologischen Zustands. Im Gegenteil. Diese Ebene der erzwungenen Wahl ist genau das, woran es der psychotischen Position mangelt. Das psychotische Subjekt agiert, als hätte es in der Tat vollständig freie Wahl. War Paris psychotisch, als er glaubte, die Wahl für eine der drei Grazien zu haben? (vgl. Slavoj Zizek, Tücke des Subjekts, S. 28ff.)
Montag, 5. Dezember 2011