unzurechnungsfähig
Was heute Breivink attestiert wird und was dazu geführt hat, daß er für unzurechnungsfähig erklärt wurde, das muß man dem deutschen Volk und seinen Führern während der dreißiger bis fünfziger Jahre des 20. Jh. attestieren. Ebenso dem italienischen Volk, der Mehrheit des spanischen Volkes unter dem Franco-Regime, dem chilenischen während des Pinochet-Regimes... etc. Millionen von Menschen wiesen jene „geheime Verrücktheit“ (André Green) auf, die sich trotz uneingeschränkter Fähigkeit zu rationalem instrumentellen Handeln geltend machte. Und es fragt sich, ob sie alle geheilt sind, sofern sie noch leben, und ob nicht in der jetzigen Generation ebensoviele nicht gegen eine Kollektivpsychose dieser Art gefeit wären. Normalität ist gegen den Unterschied von gesund und psychotisch offenbar indifferent. Unter dem Deckmantel der Normalität kann sich eine kollektive Pychose ungehindert wie eine Epidemie ausbreiten. Die von den Philosophen und den Ärzten behauptete Gewißheit der Normalität ist trügerisch. Sicher kann man sich dieser Gewißheit nur sein angesichts eines einzelnen psychotischen Individuums. Dann ist Normalität as, was alle anderen gegen diesen Einen verbindet, deren Verhalten ob ihrer auf dieser Gewißheit beruhenden Reaktionen in aller Regel allerdings nicht weniger pathologisch sind. Sie bemerken, wenn einer in den Gladiatorenkämpfen des finanzkapitalistischen Alltags sich nicht mehr entschlossen genug wehrt und stürzen sich auf ihn. Breivink, so heißt es in dem Gutachten, lebe in einer Parallelwelt, die er nach außen abschottete und verborgen hielt. Er sehe sich als messianischer Ritter eines geheimen Ordens, als Retter der Menschheit. Er hielt sich für einen Vertreter und offenbarer des Besseren selbst des Staates. Das haben die Rechten so an sich. Sie wären alle unzurechnungsfähig. Wenn es angesichts der zwanzig Jahre lang beflissentlich übersehenen rechtsradikalen Umtriebe in Deutschland vom Verfassungsschutz heißt, er sei auf dem rechten Auge blind, dann muß man fragen, ob nicht die ganze Gesellschaft auf dem rechten Auge blind ist, und das nicht erst seit den letzten 15, 20 Jahren. Der Verfassungsschutz steht ja bei aller Geheimheit nicht isoliert in der Gesellschaft. Seine Vertreter haben Familienangehörige und Nachbarn und lesen Zeitung etc. Sie sind in die Normalität eingebettet. Die Normalität steht latent rechts. Der Faschismus ist nur eine Radikalisierung der Normalität. Daß es nicht so sei, ist nur eine auf Dauer nicht aufrechterhaltbare Selbsttäuschung, die in Sonntagsreden und im Jargon des Gutmenschentums gepflegt und beschworen wird. Daß jeder diese Unterstellung empört zurückweisen wird, spricht ja nicht dagegen. Auch nicht, daß die ganze Gesellschaft für unzurechnungsfähig zu erklären. Rassismus, Ausländerhass, Islamfeindlichkeit und welche Eigenschaften dergleichen mehr sind, bilden nur die risikolos skandalisierbare Oberfläche des Rechts-Seins. Den Kern bilden ein eschatologischer Sozialdarwinismus und das wahnhafte Sendungsbewußtsein, die Überzeugung, etwas zu sagen und zu tun, was die anderen nur denken, und vor allem die von Canetti beschriebene Neigung, gegenüber einzelnen eine Meute zu bilden und sich in den Schwächeren und den Verlierern nicht wiederzuerkennen. Das ist besonders pervers bei denen, die faktisch Verlierer sind. Aber gerade in dieser Perversität sind sie normal. Anders Breivink bildet eine Ein-Mann-Meute.
Montag, 5. Dezember 2011