Nachträglich
Nachträglich
Rem Koolhaas vertritt in seinem Buch “Delirious New York” die Ansicht, daß jeder Versuch, der Architektur Manhattans eine Planungs-Intention zu unterstellen, nur den Charakter der Nachträglichkeit haben könne. Die Hochhäuser seien in einem Bau-Delirium entstanden. Sein Buch, in dem er den Ideen nachforscht, die den Bauten und dem Layout zugrundeliegen mögen, sei darum ein “retroaktives Manifest”. Koolhaas folgt damit einem Gedanken Sigmund Freuds, den Marcia Cavell in einem Satz zusammenfaßte: „Der Historiker ist eine Art nachträglicher Wahrsager, der die kausale Rolle von Ereignissen im Leben seiner historischen Personen sieht, die außerhalb ihres Gesichtskreises lagen.“ (Marcia Cavell, Freud und die analytische Philosophie des Geistes. Überlegungen zu einer psychoanalytischen Semantik)
Nachträglichkeit (deferred action) bezeichnet bei Freud eine Aktivität des Umarbeitens, die durch ein auf traumatisierende Ereignisse reagierendes Delirieren notwendig geworden ist. Dabei interpretiert der Geist nicht nur die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit, sondern auch die Vergangenheit im Lichte der Gegenwart. Sowohl Jacques Derrida (in ‚Freud und der Schauplatz der Schrift’) als auch Jacques Lacan (u.a. in ‚Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse’) haben den Begriff übernommen.
Das psychoanalytische Konzept der „Nachträglichkeit“ steht in engem Zusammenhang mit dem Konzept des Traumas. „Nicht das Erlebte allgemein wird nachträglich umgearbeitet, sondern selektiv das, was in dem Augenblick, in dem es erlebt worden ist, nicht vollständig in einen Bedeutungszusammenhang integriert werden konnte. Das Vorbild für ein solches Erleben ist das traumatische Ereignis.“ (Laplanche/Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse). Individuelle wie kollektive Traumen sind einem andauernden, gleichwohl diskontinuierlichen Prozeß der nachträglichen Umschrift ausgesetzt.
Dienstag, 15. Februar 2011