Kluge Entscheidungen

 

Geschichtsbücher und Romane suggerieren, das Leben der Menschen werde von klugen Entscheidungen bestimmt. Das letzte und subtilste Beispiel für die unangefochtene Geltung dieser Grundüberzeugung, wobei sich diese zugleich auflöst, ist „Die Anatomie des Augenblicks“ von Javier Cercas. In der Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde, so der Untertitel, habe sich nach Ansicht des Autors gezeigt, wie gegenwärtig kluge Entscheidungen aussehen. Daß der Putsch abgewendet wurde, bedeute etwas, das mit einem schablonenhaften Denken entlang der ideologischen Frontlinien nicht mehr zu erfassen sei. Den größten Anteil habe Adolfo Suarez gehabt, noch amtierender Ministerpräsident, der 25 Tage zuvor seinen Rücktritt erklärt hatte, ausgelaugt und verzweifelt vor dem Trümmerhaufen seiner Politik des Übergangs stehend, als Künstler der Zweideutigkeit, und des Taktierend und der kalkulierten Verschleierung. „Den Franquisten gegenüber versicherte er, es gelte, auf gewisse Bestandteile des Franquismus zu verzichten, um den Fortbestand des Franquismus zu gewährleisten; der demokratischen Opposition erklärte er, es gelte, auf gewisse Elemente des Bruchs mit den Franquisten zu verzichten, um den Bruch mit den Franquisten zu gewährleisten. Zur Überraschung aller gelang es ihm, alle zu überzeugen.“ Daß er wie noch zwei andere dem Befehl des mit einer Pistole herumfuchtelnden Oberstleutnants Tejero, sich auf den Boden zu legen, nicht gefolgt war, obwohl die Köpfe dieser drei Pistolenkugeln umschwirrten, macht ihn nicht zum Helden, er war vielleicht einfach nur zu perplex, um im Augenblick die Gefahr zu begreifen, oder in ihm überwogen kurzzeitig schauspielerisch-zirzensische Elemente seines Charakters, so daß er sich in der Pose gefiel. Sein Heldentum bestand, wie es Hans Magnus Enzensberger nannte, im Rückzug. Man mag sich mit Ingendaay fragen, ob, wie in diesem Fall und vielleicht in manchem anderen, „schlecht kontrolliertes Temperament, Eitelkeit oder Angeberei über Sieg und Niederlage von Ideologien entscheiden kann“. Noch näher kommt er dem Rätsel der Geschichte wohl in der Tat mit dem folgenden Resumee: „Und die tiefste Wahrheit von allen: Daß die spanische Demokratie im kritischen Augenblick ausgerechnet von drei Männern verteidigt wurde, von denen keiner sich sieben Jahre zuvor als Demokrat bezeichnet hätte, ja die sich früher einmal aktiv gegen demokratisch gewählte Regierungen erhoben hatten (wie Carillo und Gutierrez Mellado in den dreißiger Jahren), oder die, wie Suarez, nach einer langen von Lächeln und Opportunismus bestimmten Karriere im franquistischen Machtapparat ganz nach oben gekrabbelt waren, möglicherweise sogar, ohne zu ahnen, welche historische Aufgabe sie einmal als die ihre begreifen würden. Eine Aufgabe, die sie am Ende zerstört hat, was sonst?“ Der unkritischen Selbstfeier der „transicion“ setze der Autor „die Einsicht entgegen, daß unsere Erinnerung die Ereignisse irgendwann mit Make-up bedeckt und wir uns lieber nicht auf die Genauigkeit unseres Gedächtnisses verlassen sollten.“ Er mache die selbstzufriedene Haltung derer zunichte, die allen Ernstes glauben, „das Volk habe kühlen Kopf bewahrt, die Politik habe souverän reagiert und die spanische Demokratie ihre Bewährungsprobe bestanden“, während sich tatsächlich das gesamte Land zwischen die eigenen vier Wände zurückzog, um abzuwarten, ob der Putsch scheitert oder nicht, sich also gewissermaßen, wie von Uniformierten befohlen, unter den Bänken verkrochen. Auf eine tragische Weise wurde die armselige Feigheit für ein ganzes Land zum Gewinn, auf den es sich nun sogar noch etwas einbilden möchte. Enzensberger schrieb in seinem Essay „Helden des Rückzugs“: „Wer die eigenen Positionen räumt, gibt nicht nur objektiv Terrain preis, sondern auch einen Teil seiner selbst.“ Doch ist dies noch keine Einsicht, die sich feiern läßt. Zur Einsicht wird es, wenn wir erkennen, daß dieser Selbstverlust etwas ist, das wir kollektiv in einen Triumph ummünzen müssen. Diese Art der Falschmünzerei kommt tagtäglich zum Tragen in den Anekdoten, die wir uns in der Familie oder in Kneipen erzählen, in denen Peinlichkeiten und Niederlagen erträglich und erzählbar werden und in Biographien integrierbar. Wir suchen zwanghaft nach Helden, nach Entscheidern, und sei es auch solchen, die im richtigen Moment besonnen nichts tun. Das Gedächtnis betreibt Fälschung, indem es etwas Unfaßbares in etwas Intelligibles verwandelt. Geschichtswissenschaft und Romane betreiben nichts anderes als diese Falschmünzerei, ohne die wir nicht leben können. Ein Roman, der, indem er nichts beweisen will, indem er absichtslos zu bleiben versucht, dies transparent macht, Selbstreflexion zumindest anbietet, tut das Beste, was ein Roman leisten kann.

 

Mittwoch, 16. Februar 2011

 
 
Erstellt auf einem Mac

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