Potlatch 2
Karl Marx ging davon aus, daß sich das Kapital selber zerstöre. Mit jeder seiner unvermeidlichen Krisen werde es schwächer. Lenin fragte, wenn man dem nicht nur tatenlos zusehen will: Was tun? Wenn es nun aber so wäre, daß das Kapital aus jeder seiner Krisen gestärkt hervorgeht? Einer äußerst enttäuschungsfesten Ideologie zufolge glauben wir, daß es, wenn es den Reichen gutgeht, allen gut gehe. Einer Art von „Ökodizee“ (Joseph Vogl) zufolge halten wir die Gewinnmaximierung der Unternehmen, Kapitalgesellschaften und Banken für den Garanten allgemeinen Wohlstands und ausgleichender Harmonie. Der hemmungslose Eigennutz der Vermögenden gilt als Voraussetzung allgemeinen und allgemein wachsenden Wohlstands. An diese geschichtsphilosophische Fiktion mag man als Zivilist nach der jüngsten Finanz- und Weltwirtschaftskrise nicht mehr recht glauben, dennoch gilt sie als politische Doktrin nach wie vor unangefochten.
Die Ratlosigkeit der Anthropologen angesichts der Potlatch-Riten einiger Indianerstämme im Nordwesten Nordamerikas gibt Aufschluß über die heutige Ideologiestutzigkeit. Boas konnte die exzessive Verschwendung, bei der nicht nur unerwiderbar große Geschenke gemacht werden, sondern sagenhafte Reichtümer öffentlich ins Meer geworfen werden, nur als pathologische Abart des normalen gewinnorientierten Warentausches und als Verstoß gegen die normale Erwartung, daß ein Geschenk angemessen erwidert wird, begreifen. Erst Marcel Mauss entdeckte in diesen vermeintlich unvernünftigen Riten eine soziale Vernunft: als Instrument, Häuptlingsherrschaft zu erringen oder zu stablisieren durch Beschämung der Rivalen. Der Titelverteidiger oder Herausforderer erwartet von den Rivalen, daß sie die Gabe nicht erwidern können. Der Gewinn liegt im Verlustgeschäft. Es würde sich lohnen, den modernen Kapitalismus als Potlatch anzusehen. Die Krisen wären keine Pannen, sondern erkennbar als Wesenskern des Kapitalismus. Die für den Finanzcrash verantwortlichen Bankmanager der Wallstreet und die Politiker in Amerika und allen kapitalistisch wirtschaftenden Ländern haben in einem gigantischen Potlatch-Fest 900 Billionen Dollar versenkt und ihre Führungsposition nicht etwa eingebüßt, sondern eindrucksvoll bestätigt. Sicher geht immer etwas kaputt bei Krisen und bei einem Crash - ganze Staaten gehen bankrott, Millionen von Menschen verhungern - aber nicht das Kapital. Der eigentliche Welthäuptling bleibt munter. Wir tun dasselbe wie die Indianer. Im Unterschied zu den sogenannten Primitiven wissen wir nur nicht, was wir tun.
Sonntag, 20. Februar 2011