Störfall
Solange alles gutgeht, bildet die Gesellschaft als die Natur des Menschen eine fraglos angenommene Einheit, in der die Einzelnen etwas teilen und sich alle als Teil einer Gemeinschaft fühlen dürfen. Der gesellschaftliche Organismus ist an der Aufrechterhaltung dieses Zustands interessiert und ist auf Störungen vorbereitet. Störungen treten nicht als Probleme des Organismus, etwa als Anpassungsprobleme an Existenzveränderungen in Erscheinung, sondern als Störer, als außerhalb oder innerhalb des Organismus auftretende Elemente, die den fraglosen Zustand stören. Bei Störungen generiert und aktualisiert der Organismus die Idee des Andersartigen, das nicht zum System paßt. Störer werden ausgegrenzt und isoliert. Dann definiert sich der Organismus im Gegensatz zu den Andersartigen außerhalb der eigenen Identitätsgrenzen, oder es rastet etwas ein, was eine Trennung von Gemeinschaft und gewissen Einzelnen im Innern fixiert. Entsprechende Riten sind in der Neuzeit durch Wissenschaften ersetzt worden. Sozialwissenschaft und Psychologie sind erfunden worden, um Störfälle so behandeln zu können, daß es wie ein Problem von Einzelnen aussieht, wenn nicht mehr alles gutgeht, und alle dies glauben. Die Wissenschaften erfüllen nach wie vor die Funktion eines Rituals. Die Erfüllung dieser Funktion sieht nur nicht mehr so aus wie das, was man arrogant als obsolete Praktiken der Primitiven belächelt. Um das Ritual der Abstoßung zu vollziehen und zu legtimieren, mußte das Individuum erfunden werden. Daß hier nachwievor ein Ritual stattfindet, merkt niemand, weil man das Individuum für natürlich und dank seiner Haut als evident und als etwas empfindet, das nicht zu leugnen ist. Das Individuum ist flankierend als Ideologie etabliert und gilt fortan als Atom des Sozialen, das kein unreduzierbares Erstes mehr ist, sondern als etwas Zusammengesetztes begriffen wird. Wenn Intellektuelle wie Gabriel Tarde anmahnten, daß Gesellschaft als Masse nicht nur die Summe ihrer Teile sondern ein eigenes Wesen mit eigenen Gesetzen ist, dann wird die Verwandlug der Gesellschaft in die Masse als Anomalie verbucht und in das Fach Rätsel abgeschoben. Das Individuum gilt als Grundeinheit des Sozialen, als Souverän des Politischen, als Sitz des reflexiven Denkenvermögens und als Kontrolleur der Wissenschaften. Dabei gerät in Vergessenheit, daß die Natur des Menschen die Gesellschaft ist, daß der Mensch in Form von Gesellschaft existiert, mit der Neigung, die Vergesellschaftung zu vertiefen und räumlich auszudehnen, der Tendenz zur fortschreitenden Arbeitsteilung und zur Globalisierung. Zu den natürlichen Eigenschaften der gesellschaftlichen Existenz des Menschen gehört die Fähigkeit der Selbstimmunisierung. Der soziale Organismus verfügt über ein Immunsystem, das Störungen registriert und auf diese reagiert, indem es sie isoliert und fremd macht. Die Immunabwehr richtet sich entweder gegen eine fremde Aggregation von Feinden und Barbaren oder gegen etwas im Innern des eigenen Aggregats, das in Form von Einzelfällen personifiziert wird, als die Anormalen. Gegen den äußeren Feind der Nicht-Menschen oder den inneren Feind, die Anormalen, formiert sich nun die Abwehrbereitschaft des Organismus als homogene Gemeinschaft, als Wertekanon und als Gesundheit. Im Zuge der Globalisierung werden die äußeren Feinde zunehmend in Anormale überführt. Aus Gegnern werden Terroristen, aus Barbaren werden pathologische Fälle. Soziologie und Politologie werden entsprechend psychologisiert. Psychologie ist auf dem Vormarsch.
Die Religionen spielen in dem Prozeß der Autoimmunisierung eine wichtige Rolle. Sie versagen als Institute, die für die Selbstreflexion ihrer Rolle prädestiniert wären. Statt öffentliche Aufklärung über sich selbst betreiben sie, wobei sie sich des Suchtpotenzials der intellektuellen Unterforderung in ebensogroßem Maße bedienen wie das Fernsehen, das schmutzige Geschäft der Infantilisierung und der Integration des schlechten Geschmacks, der so seiner subversiven Potenz beraubt wird.
Es heißt, das Christentum habe bei seiner Verbreitung lokale heidnische Kulte schlau integriert. Indem man animistische und mythologische Zugeständnisse machte, habe man es den missionierten und bekehrten Völkern erleichtert, den neuen Glauben anzunehmen. Tatsächlich kommt das Christentum nicht ohne Anleihen bei lokalen Kulten aus. Die christliche Religion bleibt ohne solche Anleihen abstrakt und unvollständig, ist zwar immanent als Denkgebäude logisch aufgebaut, muß den Menschen aber Antworten auf ihre Fragen schuldig bleiben. Die Mythologie und die heidnischen Lokalkulte bilden das Wesen des Christentums, was den Gnostikern und den Intellektuellen und Künstlern der Renaissance bewußt war. Während sich die jeweils geltende Orthodoxie wahnhaft für das Wesen des Christentums hält und bereit ist, für die Aufrechterhaltung dieses Wahns Menschen millionenfach zu ermorden und zu Tode zu foltern, sind es in Wahrheit gerade die Abweichungen und Häresien, die das Wesen des christlichen Glaubens ausmachen, auch wenn sie den Axiomen der Theologie widersprechen. Die theologischen Querelen spiegeln für ihre Agenten unsichtbar dieses Paradox. Solange die Querelen als notwendige Selbstreinigungsverfahren angesehen werden, handelt es sich um Hirngespinste, so wie auch die Wissenschaften Hirngespinste sind, solange sie es versäumen, ihren Ritualcharakter und ihre Funktion in der Immunabwehr des sozialen Organismus zu reflektieren. Dieses Versäumnis wird in Epochen der Überhitzung der Immunabwehr offenkundig, weil es immer erst im Nachhinein, nachdem die Katastrophe ihr größtmögliches Ausmaß überschritten hat, bedauert werden kann und die Menschheit nicht lernen kann, die nächste Katastrophe zu verhindern. Das Ritualwesen der menschlichen Existenz ist trotz seiner periodisch beklagten Schattenseiten, wie sie in Kriegen, Diktaturen, Massenvernichtungen und Wirtschaftskrisen zutage treten, nicht abschaffbar. Man spricht dann fassungslos gern von der dünnen zivilisatorischen Schicht über dem barbarischen Wesen Mensch. Religionen reflektieren sich theologisch als Humanismus, fungieren aber tatsächlich im Sinne des blinden Autoimmunsystems der Gesellschaft und beteiligen sich im Sinne einer Stärkung von trivialisierendem, ignorantem Alltagswissen und der Verfestigung von Vorurteilen an Stigmatisierung, Diskriminierung und Ausschließungsprozessen.
Sobald man die gesellschaftliche Natur des Menschen erkannt und anerkannt hat, werden Krankheiten in ihrer Doppelnatur als Ausstoßungsphänomene der Gesellschaft und als gesunde Reaktionen der Einzelnen erkennbar. Das biologische Geschehen im individuellen Organismus wird überlagert von dem rituellen Geschehen der Autoimmunabwehr des sozialen Organismus und seiner Definitionspolitik.
Die Ausgeschlossenen werden als kranke Individuen behandelt, um ihnen selbst die Schuld an ihrem Ausgeschlossenwerden zu geben und sie sich selbst für schuldig halten zu lehren. Sie sollen abschwören, sich unterwerfen, bekennen, sich als Objekte des Rituals oder des wissenschaftlichen Blicks anerkennen. Der wissenschaftliche Blick richtet sich auf ihre störende Andersartigkeit als im Individuum lokalisierter Defekt, den es zu beheben gilt, den der Einzelne als Individuum gestehen soll. Der Organismus, der dem Individuum zugeschrieben wird, soll beichten, und der Einzelne soll in der ihm zugeschriebenen Individualität die Schuld sühnen wollen. Dostojewskij hat Schuld und Sühne nicht propagiert, sondern als bizarres Phänomen, als Rätsel thematisiert.
Die verbotenen Gedanken werden nicht an offizieller Stelle artikuliert und veröffentlicht. Sie treten nicht als Flaggschiffe der Verlage oder Hauptevents der Medien in Erscheinung, werden nicht als Exzellenzcluster der Universitäten finanziert, sondern sie machen sich bemerkbar an der Peripherie der Metropolen, in den Intermundien der Imperien, sie werden wenn überhaupt in Kleinverlagen, in obskuren Zeitschriften veröffentlicht, die keine Honorare zahlen und die niemand liest. Sie sammeln sich in den Archiven der unverlangt eingesandten und abgelehnten Manuskripte oder verbleiben gleich in den Schubladen ihrer Autoren. Die großen Lehrmeister sind die, von denen man ungestraft und ohne das Gefühl haben zu müssen, sich zu blamieren, Vielschwätzer nennen darf.
Einer der bizarrsten Vorgänge der Menschheitsgeschichte ist der Vorgang, in dem das Individuum zum Inbegriff von Reflexionsvermögen und Emanzipation werden konnte, obwohl es doch erfunden wurde, um den Einzelnen, der aufgrund seines Emanzipationsbestrebens, ob sich dieses nun in Schriften, Kunstwerken, Krankheiten oder Aufschreien manifestiert, als störend aufgefallen ist, mundtot machen zu können, ihn zu isolieren, fremd zu machen, seiner Sprache zu berauben, und ihn und alle Welt glauben zu machen, er sei an seinem Negiertwerden und seiner Diskriminierung und Diffamierung und an seiner Vernichtung selber schuld. Er müsse sich dafür sogar bei der Gemeinschaft bedanken. Freilich ist das Individuum nicht nur eine große Falle, sondern auch der Hort widerständigen Denkens und des denkenden Widerstands insofern, als diese immer von Einzelnen vorgebracht werden und ausgehen, weil nur wenige sich diese Mühe machen. Die Menschheit hat sich mit der Erfindung des Individuums einen Terroristen eingehandelt.
Das zum Widerstand fähige Denken und der zum Denken fähige Widerstand können in der Gestalt der Krankheit auftreten. Sie können aufgrund des Sprachentzugs in der Form dessen auftreten, was die Gesellschaft Krankheit nennt, auch wenn die Symptomatik eine gesunde Reaktion am Ort des Einzelnen auf unzumutbare Zumutungen darstellt. Gesund und krank sind keine Gegensätze, sondern Markierungen auf einem Kontinuum, wie Stellen auf einem Möbiusband. Der Übergang vom einen ins andere vollzieht sich, ohne daß man angeben könnte, an welchem Punkt das eine durch das andere ersetzt wurde, ohne daß sich angeben ließe, wann der Zustand sich geändert und in sein Gegenteil verkehrt odere verdreht hat. Die vermeintliche Grenze wird erkennbar als eine Setzung, die einer Notwendigkeit des gesellschaftlichen Organismus gehorcht. Die Gesellschaft muß diese Unterscheidung vornehmen oder meint, sie vornehmen zu müssen, um sich gegen das Anormale zu wehren, und muß so tun, als gäbe es hierfür einen Grund in der Sache.
Die Wissenschaften müssen sich selbst gegen Transparenz immunisieren. Die großen Lehrmeister haben den Finger auf ihre wunden Punkte gelegt, ihre blinden Flecken, ihre Scharniere bloßgelegt. Die Begrifflichkeit einer jeden Wissenschaft ist angesiedelt auf Möbiusbändern. Die durch vermeintliche Unterschiede verdeckten unmerklichen Übergänge bilden das Register der in ihrer potenziellen Sprengkraft rituell unterschätzten Rätsel.
Mittwoch, 9. Februar 2011