Ödipus 2
Für Deleuze und Guattari führte Freud die Abwendung von der Verführungstheorie und vom Traumatismus zur Annahme und Darstellung einer endogenen, spontanen kindlichen Sexualität und zu seiner Bestimmung des Ödipusmythos. Er soll in seiner Selbstanalyse darauf gekommen sein. Aber was heißt denn: Freud entdeckte Ödipus im Verlauf seiner Selbstanalyse? Geschah es nicht vielmehr aufgrund seiner klassischen Bildung, daß er erkannte, das sieht nach Ödipus aus? Daß etwas, das ihm begegnete und das ihm dem Ödipusmythos ähnelte, betrachtete er als Variante seines Familienromans. Es war etwas Paranoisches, kraft dessen der Wunsch nach Familienbestimmung aufbrach. Erst dann hat er es ödipalisiert oder neurotisiert. Für den „Imperialismus des Ödipus“, „mit seiner Thronbesteigung“ wird vieles aufgegeben und verdrängt, was mit der Entdeckung des Unbewußten die wissenschaftliche Bühne betreten hatte: die Partialtriebe, die Wunschströme, die Assoziationsketten werden einem „despotischen Signifikanten“ ausgesetzt. Die gesamte Wunschproduktion wird niedergewalzt. Das produktive Unbewußte räumt das Feld zugunsten eines Unbewußten, das sich nurmehr darstellen kann, im Mythos, im Traum. Seine Produktivität muß draußen bleiben. „Es hat den Anschein, als sei Freud angesichts dieser Welt der wilden Produktion und des explosiven Wunsches zurückgeschreckt, als habe er hier um jeden Preis etwas Ordnung reinbringen wollen, die klassische Ordnung des alten griechischen Theaters.“ (Anti-Ödipus, S. 69). In ihrem Familianismus hat die Psychoanalyse den Patienten darauf konditioniert, Papa-Mama zu antworten. Da man uns lehrt, daß der Lehrer, der Ausbilder, der Oberst, selbst die Mutter immer nur der Vater ist, die Psychoanalyse „alle Agenten der gesellschaftlichen Produktion auf die Gestalten der familialen Reproduktion zuschneidet, wird verständlich, daß die aufgeschreckte Libido es nicht mehr wagt, aus Ödipus auszuscheren.“ (82) Dabei stellte die Familie niemals einen Mikrokosmos im Sinne einer autonomen Figur dar, die einem größeren Kreis eingeschrieben wäre... Sie ist von Natur aus exzentrisch, dezentriert. „Denn es gibt immer einen Onkel in Amerika, einen Bruder, der auf die schiefe Bahn geraten ist, eine Tante, die mit einem Tenor durchgebrannt ist, einen arbeitslosen, einen bankrotten oder in Konkurs gegangenen Vetter, einen anarchistischen Großvater, eine verrückte oder kindische Großmutter im Hospital. Nicht die ganze Familie erzeugt diese Einschnitte, und die Einschnitte in ihr selbst sind keine der Familie: Die Commune, die Affaire Dreyfus, Religion und Atheismus, der Krieg in Spanien, der Aufstieg des Faschismus, der Stalinismus, der Krieg in Vietnam, der Mai 68... dies alles zusammen bildet die Komplexe des Unbewußten, und sie sind wirksamer als der immerwährende Ödipus.“ (126) Das Kind spielt nicht nur Papa-Mama-Kind, es spielt auch Doktor, Zauberer, Cowboy, Pirat, Räuber und Gendarm, es spielt mit der Eisenbahn, mit kleinen Autos... in seinen Spielen wie in seiner Nahrungsaufnahme, seinen Ketten und Vermittlungen findet schon der Säugling sich in etwas hineinversetzt, was den Rahmen der Familie sprengt. Die Eltern sind auf Partialobjekte reduziert, als die sie „die Rolle von Zeugen, Zuträgern und Agenten spielen, innerhalb eines Prozesses, der sie an allen Ecken und Enden überflutet“ (130) Deleuze findet es sonderbar, daß es des Kolonialismus und der Träume der Kolonisierten bedurfte, um zu bemerken, daß „auf den Spitzen des Pseudodreiecks Mama mit dem Missionar tanzte, Papa sich vom Steuereintreiber in den Arsch vögeln und das Ich sich von einem Weißen schlagen ließ.“ (124) (siehe Franz Fanon) Die Psychoanalyse hält gleichwohl an der Familie fest, als Struktur der Analyse wie der Therapie. Wenn aber Heilen Ödipalisieren heißt, dann „versteht man auch das Zusammenzucken des Kranken, der ‚nicht geheilt werden will!’, und den Analytiker wie einen Verbündeten der Familie und schließlich der Polizei behandelt.“ Ist der Schizophrene von der Realität abgeschnitten, weil ihm Ödipus fehlt, oder ist er nicht vielmehr aus Gründen der Ödipalisierung krank, die zu ertragen ihm unmöglich ist, obwohl doch alle mitwirken, sie ihm aufzudrängen. (117) „Weit entfernt, den, man weiß nicht welchen, Kontakt zur Realität verloren zu haben, steht der Schizophrene vielmehr dem schlagenden Herzen der Realität am nächsten, an dem in die Produktion des Realen übergehenden heißen Punkt ... Die eigentliche Frage ist: Wer reduziert den Schizophrenen auf seine autistische, hospitalisierte, von der Realität abgeschnittene Gestalt? ... Wer zwingt ihn, sich auf einen wieder taub, blind und stumm gewordenen organlosen Körper zurückzuziehen?“ (113) Für diejenigen, die sich nicht ödipalisieren lassen, für die ist der Psychoanalytiker da, um bei Bedarf Asyl oder Polizei zur Hilfe zu rufen.“ (104) Batesons double-bind ist keine Ausnahme, sondern der geläufige Fall, die Situation der Ödipalisierung, er ist Ödipus insgesamt.(102f.) Ödipus droht uns: Wenn du nicht den Linien von Papa-Mama-Ich folgst, „wirst du in die schwarze Nacht des Undifferenzierten stürzen“. Dasselbe hat Mubarak auch gesagt, als er die Aufgabe seiner diktatorischen Macht verweigerte. Er könne nicht abdanken, weil sein Volk ohne ihn und seinen Terror unweigerlich ins Chaos stürzen würde. Gaddafi hatte denselben Spruch drauf. Deleuze und Guattari zufolge nimmt die Psychoanalyse den uralten Versuch wieder auf, uns zu unterdrücken, uns zu Schuldigen zu stempeln, uns einzureden, daß wir uns für Schuldige halten sollen. (62) Freud mochte die Schizophrenen nicht, er haßte ihren Widerstand gegenüber der Ödipalisierung, er neigte dazu, sie wie Idioten zu behandeln.
Freitag, 4. März 2011