Doubletten
Bei Foucault (Die Anormalen) kann man lernen, wie aus einer Tat ein Delinquent gemacht wird. Zuschreibungen erfolgen aufgrund eines Gutachtens. Wir haben es bei einem solchen Gutachten – ob es nun von einem professionellen Gutachter erstellt oder Richter und Ankläger sich selbst zu Gutachtern ernennen - mit einem besonderen Wahrheits-Diskurs zu tun. In ihm vollziehen sich eine reihe von Substitutionen oder Verdopplungen, die Einführung einer Reihe von Doubletten. Es geht um die Verschiebung der Effekte der juristischen Macht. Er ermöglicht, das vom Gesetz definierte Delikt durch etwas zu verdoppeln, was nicht das Delikt selber ist, sondern eine Serie von Verhaltensweisen und Seinsweisen, die als Ursache, Ursprung, Motivation des Deliktes vorgebracht werden. (Michel Foucault, Die Anormalen) Sie werden die strafbare Materie abgeben. Begriffe, die in Gutachten immer wieder auftauchen, verraten das Prinzip: psychologische Unreife, wenig strukturierte Persönlichkeit, schlechte Realitätseinschätzung, affektives Ungleichgewicht, emotionale Störungen, Kompensation, imaginäre Produktion, Manifestationen pervertierten Stolzes, Herostratentum, Alkibiadismus, Donjuanismus, Bovarysmus. Sie haben haben den Zweck, die Seinsweise der Person als das Delikt selbst erscheinen zu lassen, das Realitätsniveau des Vergehens zu verschieben. Da solche Verhaltensweisen nicht strafbar sind – kein Gesetz kann eine emotionale Störung verhindern oder sich gegen übertriebenen Stolz richten – es geht darum, ein psychologisch-ethisches Doppel des Delikts zu erstellen; das Vergehen, wie es im Gesetz formuliert ist, aus dem Gesetz herauszunehmen, „um hinter ihm sein Double auftauchen zu lassen, das ihm wie ein Bruder gleicht“, und aus ihm eine Abweichung im Hinblick auf gewisse Regeln psychologischer und moralischer Art zu machen. (Foucault, S. 34) Nicht das Delikt wird letztlich verurteilt, sondern die Person, die aufgrund ihrer Eigenschaften zu dieser Tat als fähig erachtet wird. „Was der Richter verurteilen und bestrafen wird, der Punkt, auf den sich die Bestrafung beziehen wird, sind eben diese abweichenden Verhaltensweisen, die als Ursache, als Ausgangspunkt, als Ort der Entstehung des Verbrechens vorgestellt werden und doch nur dessen psychologische und moralische Doublette gewesen sind.“ (S. 36)
Foucault unterscheidet bei der Anwendung der Transformationstechniken als „konzertierter rationaler Zwang“ drei Stufen:
1. Das psychiatrische Gutachten macht es möglich, die Anwendung der Bestrafung auf die Kriminalität zu verschieben, wie sie vom psychologisch-moralischen Standpunkt gesehen wird. Das Delikt wird durch Kriminalität verdoppelt.
2. Es gilt zudem, den Verursacher des Delikts durch die Person des Delinquenten zu ersetzen. Das Gutachten versucht, das Vorleben zu beschreiben, das diesseits der Straffälligkeit liegt, etwa durch das Feststellen einer Vorliebe zu herrschen und Macht auszuspielen und Stolz zu zeigen: Er arbeitete schon seinen Eltern gegenüber mit emotionaler Erpressung, konnte es bereits als Kind nicht leiden, wenn sich man sich seinem Willen widersetzte. Es geht bei dieser Behauptung, daß sein Begehren grundsätzlich schlecht war, um den Nachweis, wie ähnlich die Person seinem Verbrechen bereits vor dessen Ausführung gewesen ist. Es wird eine Krankheit nachgezeichnet, die eigentlich keine ist, weil sie eine moralische Schwäche ist. Die Serie solcher Grenzwertigkeiten nachzuzeichnen, ist aber das Geschäft der Psychiater seit langer Zeit. Aus dem verantwortlichen Subjekt ist ein Objekt geworden: das Objekt einer Technologie und eines Wissens der Wiedergutmachung, der Wiederanpassung, der Wiedereingliederung und der Züchtigung.
3. Als weitere Verdopplung geht es um die Aufbietung eines Arztes, der Richter und Arzt zugleich ist, indem er fähig ist, den Delinquenten vom Status des Angeklagten in den eines Verurteilten zu versetzen. Der Psychiater wird selbst zum Richter, indem er ein Ermittlungsverfahren einleitet. Das häßliche Metier des Strafens wir in das schöne des Heilens verkehrt.
Die Entwicklung von Normalisierungstechniken und das Zusammenwirken mit den damit verbundenen Mächten ist nicht nur einfach das Resultat der Begegnung von medizinischem Wissen und gerichtlicher Macht, sondern es hat sich dabei ein eigener Typus von Macht gebildet, der beide kolonisiert, ein Machttypus, der in der theatralischen Szene des Gerichtsverfahrens mündet und dabei Regeln und Autonomie in sich selbst hat. Man sollte viel stärker das Augenmerk auf die Arbeitsweise dieser Normalisierungsmacht und ihre Souveränität richten.
Wir treffen eigentlich eine Unterscheidung zwischen Krankheit und Verantwortung, pathologischer Kausalität und Freiheit des Rechtssubjekts, zwischen Therapeutik und Bestrafung, zwischen Krankenhaus und Gefängnis. Der Grundsatz, daß jemand für eine Tat, die er im Zustand der Demenz oder unter Einfluß einer größeren Macht beging, nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, der seit ca. 1800 bis heute gilt, zwingt zu dieser Unterscheidung. „Der Wahhnsinn läßt das Verbrechen verschwinden, und das Verbrechen kann nicht eine Tat sein, die im Wahnsinn wurzelt“. An die Stelle dieser Teilung hat das medizinische Gutachten andere Mechanismen treten lassen. Sie begründen ein medizinisch-rechtliches Kontinuum, in dem Rechttssystem und Medizin verschweißt werden. Ein Aspekt dieses Kontinuums ist das „Prinzip Perversität“. Es gilt dabei, eine Verbindung herzustellen zwischen der Tat, die nur dann bestraft werden darf, wenn es die Absicht und den Vorsatz gegeben hat, jemandem zu schaden, und medizinischen Begriffen wie Unreife, Ich-Schwäche, Nicht-Entwicklung des Über-Ich, Charaktertruktur etc. Das Prinzip Perversität erlaubt es, medizinische Begriffe im Bereich der Rechtsprechung funktionieren zu lassen und umgekehrt. Dies entspricht einer alltäglichen Praxis, bei der einem Kind, das mit schlechten Noten nachhause kommt, prophezeit wird, daß es einmal auf dem Schaffott enden wird. Zwischen der elterlichen Strafmaßnahme oder ihrer Androhung und dem gerichtlichen Todesurteil ist ein Kontinuum hergestellt. Beide werden durch ein durchgängiges Netz von Institutionen miteinander verbunden. Dabei entsteht das „gefährliche Individuum“, das weder krank noch eigentlich kriminell ist und doch beides zugleich sein soll. Der psychiatrische Gutachter ist ein Ubu. Er disqualifiziert sich und macht sich lächerlich, indem er sich vor Gericht in seinem Diskurs der Angst zu einer Person äußert, die auf der Anklagebank sitzt und jeder Macht beraubt ist, während er selbst im Schoß der Institution sicher ist: Der Angeklagte bereitete seinen Eltern Sorgen, er fehlte in der Schule, er war faul, er lernte seine Lektionen nicht, woraus man schließen muß, daß er es an Verantwortung mangeln ließ und gerade darum für seine Tat verantwortlich ist. „Im Herzen eines Mechanismus, in dem die Justizmacht feierlich dem medizinischen Wissen weicht, können sie Ubu auftauchen sehen, ungebildet und verängstigt zugleich, der doch von dort aus diese doppelte Maschinerie präzise in Gang setzt. Die alberne Posse und das Amt des psychiatrischen Sachverständigen gehören zusammen: der Beamte ist tatsächlich ein Kindskopf.“ (S. 54)
Dieser Typus Gutachten liegt um ein Vielfaches unterhalb des epitestemologischen Niveaus der Psychiatrie. An der Wiege dessen, was sich da auftut, was sich öffnet in einer Art kultureller Regression, Selbstdisqualifizierung und Dekomposition des psychiatrischen Wissens, steht die Ineinssetzung von Perversität und Gefahr, die die Justizmacht des Arztes und die medizinische Macht des Richters dringlich fordert, was nur einhergehend mit einer Herabminderung der fachlichen Kompetenz möglich ist - analog übrigens zur Kompetenzminderung des Individuums als Romanautor. Auch als Romanautor muß man sich dümmer stellen, als man ist. Das Gutachten als Instrument der Macht der Normalisierung ist weder medizinisch noch rechtlich auf der Höhe. Verfolgen kann man das aktuell am Fall Kachelmann, und man wird es demnächst auch verfolgen können am Fall Assange. An diesen beiden Fällen läßt sich übrigens auch ablesen, daß die Normalisierungsmacht sich wesentlich auf die Normalisierungstechniken der Sexualität stützt. Historisch stehen solche Techniken in einem Kontinuum mit den Praktiken der Marginalisierung, der Abschiebung, Ausweisung, des Aussetzens und des Ausschlußes der Pest und der Lepra, die dann auch das Modell für die Ausschließung von Bettlern, Nichtsnutzen, Vagabunden, Libertins, Zigeunern, Migranten geschieht, um die Gemeinschaft zu reinigen. (64ff)
Statt zu fragen, ob der Täter im Zustand der Demenz war, wird gefragt, ob das Individuum gefährlich ist. Wir betreten den Bereich geistiger Anomalie, die in einer nicht definierten Beziehung zu dem Vergehen steht. Von der Frage der Zuschreibung der Verantwortung sind wir unmerklich zu der Frage gelangt, ob das Individuum gefährlich ist und ob es strafrechtlichen Sanktionen im pädagogischen Sinn zugänglich und wiedereingliederbar ist. Das rechtlich verantwortliche Individuum wird ersetzt durch ein den Normalisierungstechniken entsprechendes Element.
Sonntag, 6. März 2011