moderne Architektur

 

Die moderne Architektur findet ihren Inbegriff in der Villa, die dank wandbreiter und bis auf den Boden reichender Fenster dem Blick des Bewohners kein Hindernis in den Weg stellt. Das private Wohnhaus wird zum idealen Ort und zur Verkörperung des zentrierten Individuums, des seiner selbst bewußten Subjekts, das die Mitte der Welt besetzt. Sich selbst transparent, findet es sein räumliches Pendant in dem transparenten Bauwerk. Im Idealfall geht der Blick von hier ungehindert in die Weite der Landschaft, bietet sich dem Blick ein Natur-Panorama. Im selben Idealfall besitzt ein jedes Individuum ein solches Domizil. Der privilegierte Platz der Fürstenloge im perspektivisch konstruierten Renaissance-Theater wird als etwas gedacht, das jedermann zusteht. Daß die beiden Akzente des Ideals miteinander nicht vereinbar sind, dieser Widerspruch wird als etwas gedacht, das durch die vorläufig geringe Zahl solcher Individuen, die die Möglichkeiten und Ansprüche des modernen Individuums wahrzunehmen in der Lage sind, vorläufig dahingestellt bleiben kann. Nun gibt es aber eine große Zahl von Menschen, die darauf, daß auch ihre Zeit gekommen sein wird, nicht warten möchten und mit einer zweitbesten Lösung vorlieb nehmen, sich nämlich ein Haus bauen lassen, das die stilistischen Eigenschaften der Moderne aufweist, sich aber mit einem kleinen und von Nachbarn umstellten Grundstück zufriedenzugeben versuchen. Da gilt es schon als Glücksfall und Privileg, wenn das Grundstück an einer oder gar an zwei Seiten an den Waldrand grenzt.

Einer teuflischen Dialektik zufolge sind wir nicht nur Beobachter, sondern werden wir auch beobachtet. Der Blick geht nicht nur von mir in die Welt und zum anderen, sondern auch vom anderen auf mich. Während wir etwas betrachten oder jemanden beobachten und uns dabei unserer Macht erfreuen, werden wir dessen gewahr, daß auch wir beobachtet werden und Objekt fremder Machtansprüche sind. Aus dem Genuß der Souveränität wird unversehens Unbehagen und ein unheimliches Gefühl, wenn sich die transparente Wand vom Aussichtsposten in einen Grund für totale Schutzlosigkeit verwandelt hat. Das erhebende Gefühl, einen freien Ausblick zu genießen, hat sich verkehrt in das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden, ohne dies verifizieren zu können und ohne erkennen zu können, von wem, weil sich diejenigen, die es in meiner Phantasie darauf abgesehen haben könnten, in das Haus einzubrechen oder meine Frau zu vergewaltigen oder mich zu ermorden, hinter den Bäumen verstecken können. Auf einmal ist meine Phantasie von potenziellen Mördern bevölkert, die mich ungesehen in Angst und Schrecken versetzen können. Dank der transparenten Wände wohne ich auf dem Präsentierteller und im Fadenkreuz von Terroristen.

Will man dem entkommen, muß man stinkreich sein, um sich ein Grundstück leisten zu können, das die Mitmenschen verläßlich auf Distanz hält, dessen Grenzen mit dem Horizont zusammenfallen. Die sogenannten Ikonen der Moderne, wie Philip Johnson Glass House in New Canaan, Rems Haus bei Bordeaux oder die Villa Malaparte, demonstrieren sagenhaften Reichtum als etwas, das unsereiner versagt bleiben muß. Das Ideal der Moderne erweist sich als unerreichbarer Luxus, als Exzess der Conspicous Consumtion. Vielleicht hat Frank lloyd Wright das Haus Falling Water im Wald darum so gebaut, mit der Badestelle unterm Haus anstatt sichtbar davor, wie die Bauherrn verlangt hatten, freilich mit dem Erfolg, daß sie lange Zögerten, die Lösung, mit der der Architekt sie überrumpelt hatte, zu akzeptieren und mit dem haus nie richtig warm wurden.

Sartre: „Primär ist das Betroffensein, worin man sich als vom Anderen (z.B. durch den Blick) getroffenes Objekt findet.“ „Die Entdeckung des anderen Subjekts beruht großenteils auf einer Entdeckung meiner selbst als Objekt.“ „Was ich unmittelbar erfasse, wenn ich die Zweige hinter mir knacken höre, ist nicht, daß jemand da ist, sondern daß ich verletzlich bin, (...) daß ich gesehen werde."

Das Subjekt als das, was beobachtbar ist und sich darum selbst beobachtet, das ständig mit der eigenen Paranoia und deren Reflexion zu tun hat, das ein transparentes Haus bewohnt, wobei die es umgebende Landschaft ihre Unschuld verloren hat als Versteck potenzieller Mörder, bezeichnet eine paradigmatische Krimi-Situation. Nicht das Sofa in der Zehnzimmerwohnung, auf dem die Großmutter ihrer Ermordung entgegenzittert, wie Walter Benjamin insinuierte, ist der genuine Ort des Verbrechens, sondern das moderne Einfamilienhaus am Waldrand. Ein solches Domizil, in das seine Bewohner ihr ganzes Geld gesteckt und für das sie sich für ihr ganzes Leben und vielleicht darüber hinaus verschuldet und in Abhängigkeit von ihrer Lebensform begeben haben, weshalb sich das Paar nicht trennen darf und weshalb keiner der beiden den Job verlieren darf, ist der ideale Ort für Suspense. Der neue Münsteraner Tatort macht sich diesem Topos zunutze.

 

Mittwoch, 9. März 2011

 
 
Erstellt auf einem Mac

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