Eileen und Charles-Edouard
Eileen Gray ist ihre Bekanntschaft mit Charles-Edouard Jeanneret, der sich Le Corbusier nannte, nicht gut bekommen. Das Drama ereignete sich in dem Küstenort Roquebrune am Cap Martin, an der Cote d’Azur. Die erste Reise an das Cap tritt Le Corbusier wegen eines Hauses an, das nicht er selbst entworfen hat. Eileen, eine Freundin aus Paris, hat ihn eingeladen, damit er ihr neues Ferienhaus begutachten möge. Drei Jahre lang, berichtet ihm die Designerin, habe sie auf der Baustelle ihrer Traumvilla kampiert. „Nun ist sie fertig und möbliert.“ Aufs Feinste sieht er seine eigenen Entwurfsprinzipien in diesem schneeweißen Sommertraum realisiert, und dennoch ist es irgendwie anders, wenn er auch nicht sagen kann, warum. „Une maison charmante!", begeistert sich Le Corbusier, „pleine de sens architectural", mit viel Sinn für Architektur, lobt er gönnerhaft. Der Meisterarchitekt, wie sie übrigens Autodidakt, scheint voller Anerkennung. So hat er auch Anteil daran, daß die Villa als ein Manifest der Moderne in die Architekturgeschichte einging. Der Name wurde respektvoll geraunt: E.1027 - Maison en bord de mer. E steht für Eileen, 10 für den 10. Buchstaben im Alphabet, das J von Jean, den Geliebten von Eileen, den gebürtigen Rumänen Jean Badovici, 2 für seinen Nachnamen, 7 für Gray, ihren eigenen Namen. Daß hinter der Buchstabenakrobatik das Liebes-Bekenntnis eines unverheirateten Paares der Pariser Bohème steckt, dürfte dem nicht geschadet haben.
Eileen Gray wurde 1893 geboren als Kathleen Eileen Moray Smith, nahe dem Ort Enniscorthy im Co. Wexford. sie nannte sich später nach ihrer mother, Lady Eveleen Pounden, Baroness Gray. Ihr Vater James MacLaren Smith, ein Schotte, war Landschaftsmaler. Die Eltern trennten sich, als Eileen 11 Jahre alt war, und der Vater verließ Ireland, um auf dem Kontinent zu arbeiten. Eileen begleitete ihn zwar auf einigen seiner Mal-Expeditionen, die meiste Zeit jedoch vermißte sie ihn verzweifelt. Sie übertrug ihre Liebe zu ihm auf das Anwesen Brownswood, am Rande von Enniscorthy. Als jedoch ihre Schwester Ethel Lord Lindsay's sohn heiratete und dieser zu Eileens Entsetzen Brownswood in einer MockTudor-Modernisierung verschandelte, war auch dieses Glück dahin. Man war ohnehin davon ausgegangen, daß sie und ihre Mutter in das Stadthaus der Familie in Kensington umsiedeln sollten. Sie kehrte niemals wieder nach Brownswood zurück.
Zunächst war sie hoch erfreut, in Le Corbu einen berühmten Architekten als gelegentlichen Besucher empfangen zu dürfen. Doch mit der zeit wurde er ihr lästig. Wie schon früher von ihrem Schwager aus Brownshead, fühlte sie sich nun von LC aus ihrem eigenen haus vertrieben. Sie stellte fest: Le Corbusier hat E.1027 inzwischen besetzt! Seitdem er die Villa das erste Mal sah, kommt er immer und immer wieder ans Cap Martin, im Sommer wie im Winter, er bringt seine Mitarbeiter aus Paris mit, arbeitet, entwirft und denkt von hier aus Bogotà und denkt Marseille und denkt Chandigarh und all die anderen ebenso schönen wie erschreckenden Stadtvisionen und Wohnmaschinen. Le Corbusier bleibt so lange, bis er glaubt, das Haus von Eileen sei seines. War er als eleganter Herr im Reiseanzug, mit Weste, Hut, Stock und einem ledernen Koffer angereist, sollte er die folgenden Stunden und Jahre vorzugsweise nackt anzutreffen sein. Eines Tages im Jahr 1938 ging er entschieden zu weit: Le Corbusier greift zum Pinsel und überzeugt Jean Badovici davon, acht der weißen Wände, deren Klar- und Reinheit er eben noch so explizit bewunderte, mit raumgroßen Malereien zu zieren. Aus langweiligen, traurigen Mauern würden sie herausbrechen, dort eben, wo nichts geschieht, berichtet Le Corbusier später stolz. Bedeutsame Malereien auf unbestimmten Wänden.
Eileen Gray ist entsetzt. Nur ein Mal noch, doch da ist sie schon sehr alt, soll sie sich auf die Reise ans Cap gemacht haben, um nach E.1027 zu sehen. Plötzlich mutlos geworden, reist sie wieder nach Paris zurück.
Nach dem Zwist schwebt die Frage über ihm: Will er dauerhaft am Cap bleiben, so muss er wohl sein eigenes Ferienhaus errichten. Er hatte diesen Ort sofort geliebt: die schroffen Felsen, zwischen denen das glasklare Meerwasser gurgelt, im Hintergrund der bewaldete Hang, und dazu je einen Steinwurf entfernt Monaco und Menton. Er überredet den Nachbarn, den Installateur Thomas Rebutato aus Nizza, auf dessen Grundstück an der letzten wilden Ecke der Côte d'Azur bauen zu dürfen.
Der kleine Holzbau greift auf die Konstruktionsart des Strick- u. Blockbaus zurück. Die vorgefertigte Holzkonstruktion baute er 1952 auf der Basis des Modulors, bestehend aus einen Raum von 3,66 auf 3,66 m und 2,26 m hoch. Der kleine Holzbau greift auf die Konstruktionsart des Strick- u. Blockbaus zurück. Die Idee einer Raumzelle von 3,66m x 3,66m mit allen zum Wohnen erforderlichen Einrichtungen entspricht den funktionalen Anforderungen an die Schiffskabine, die Yacht, das Hausboot oder den Wohnwagen. Das WC ist, nur durch einen Vorhang abgetrennt, in den Wohnraum integriert ist. Eine Küche war nicht vorgesehen, denn sein Nachbar Robert Rebutato führte damals ein kleines Restaurant "L'Etoile du Mer" und versorgte Le Corbusier mit dem Notwendigsten.
Die Möblierung beschränkte sich auf einen Klapptisch, mehr Arbeitsplatte als Essplatz; zwei Hocker, die gleichzeitig Aufbewahrungskästen sind. Eine Zimmerdecke, die auch Stauraum ist, und eine Toilette am Kopfende der Liege, nur durch einen leichten Vorhang abgetrennt. Le Corbusiers Frau soll wenig begeistert gewesen sein. Der Meister selbst schlief auf einer Matratze auf dem Boden.
Kaum vertrieben aus dem Grayschen Paradies, dem Haus E.1027, beginnt Le Corbusier auch wieder zu malen. die Decke, den Boden und die Wände der Hütte überzieht er mit Malereien, am liebsten arbeitet er nackt. Er beschränkt sich beim Bemalen nicht auf seine eigene Hütte, er bemalt auch das kleine Restaurant gleich nebenan, jenes „Étoile de mer", das Nachbar Rebutato 1949 eröffnet hatte. Die Leute an der Küste erzählen, dass auch der alte Rebutato nicht glücklich gewesen sei mit Le Corbusiers allzu besitzergreifenden Gesten. Und so machten die ungleichen Männer ein Geschäft: Du gibst mir den Teil deines Grundstücks, auf dem mein cabanon steht. Dafür entwerfe ich dir gleich neben deinem Restaurant Campinghäuser für Gäste, die zahlen. (...)
Etwa ab 1949 prüfte LC, wie die Grundstücke der Côte d'Azur, die in den letzten Jahren durch eine Architektur ohne Rechtsanspruch verschandelt worden waren, besser ausgenützt werden könnten. Er hoffte hier auf eine Gelegenheit, sein System in der Praxis auszuprobieren, das er sich in seiner Hütte ausgedacht hatte. Ausgehend von der Teilbarkeit des menschlichen Körpers entwickelte Le Corbusier seine Maßverhältnisse des Bauens. Er markiert 3 Intervalle des menschlischen Körpers, welche eine nach Fiboncci bekannte Goldene Schnittreihe bilden. Der Fuß, der Solarplexus, der Kopf, die Finger der erhobenen Hand. Zuerst ging Le Corbusier von der bekannten Durchschnittshöhe des Europäers = 1,75 m aus, die er nach dem goldenen Schnitt in die Maße 108,2 -66,8-41,45-25,4 cm teilte. Da dieses letzte Maß praktisch genau 10 Zoll entspricht, findet er damit hier den Anschluß an die englischen Zoll, nicht dagegen bei höheren Maßen.1947 geht Le Corbusier umgekehrt von 6 englischen Fuß = 1828,8 mm als Körpergröße aus. Durch Goldene-Schnitt-Teilung bildet er eine rote Reihe nach oben und unten. Da die Stufen dieser Reihe für den praktischen Gebrauch viel zu groß sind, bildet er noch eine blaue Reihe, ausgehend von 2,26m (Fingerspitze der erhobenen Hand), die doppelte Werte der roten Reihe ergibt. Für eines seiner zahlreichen Buchpublikationen notiert er: "Wir sind im Herzen des Problems: der Gestaltung des zellenförmigen Wohnvolumens. Auch dabei ist die Genauigkeit eine Quelle leiblichen und geistigen Wohlbefindens. Dieses zellenförmige Wohnvolumen ermöglicht von selbst die verschiedenartigsten Ansichten im menschlichen Maßstab".
Der Modulor, das auf der Basis des Goldenen Schnitts entwickelte Maßsystem mit der Grundeinheit 226 x 226 x 226, gestattete LC, die Pläne für ein Feriendorf "Roc" und "Rob" in dreiviertel Stunden fertigzuzeichnen, womit er sich überall brüstete. Im August 1954 fertigte er, was er nicht versäumt eigens zu betonen, in einer halben Stunde für Robert, den Inhaber der Vesperstube, die endgültigen Pläne für fünf "Campingeinheiten" zum Vermieten. Für die serienmäßige Herstellung von Ferienhäusern ließ er sich Le Brevet, ein Stahlbausystem (2,26 x 2,26 x 2,26) 1949 patentieren, ein kombinierbares Konstruktionssystem Auf der Grundlage eines einzigen Winkeleisens, das später dann für den Zürich Pavillon wieder aufgegriffen wurde. Während "Roc" - ein Feriendorf mit 30 bis 80 Wohneinheiten und einem Restaurant - auf dem Papier blieb, wurde das zweite Projekt "Rob" -Wohnzellen für Camper- realisiert, und ist noch teilweise erhalten.
Später baut der Architekt noch ein zweites kleines Häuschen, zwölf Meter von Le Cabanon entfernt auf einem anderen Felsen liegt, das als Atelier dient. In diesem zweiten noch kleineren Haus "der Bauhütte", auf 2 mal 4 m, arbeitete Le Corbusier mit Begeisterung: hier -arbeiten, dort - ausruhen.
Man darf annehmen, daß LC hier sein architektonisches Ideal realisierte, das durch alle Projekte durchschimmert: die Zelle des Einsiedlers. Die erste Anregung zu diesem Konzept bot die Kartause Ema, wie Le Corbusier die Kartause von Florenz nennt. Schon 1907 hatte sie auf einer Reise tief seine Grundvorstellung von Gemeinschaft und Individuum in der Architektur geprägt. Die Kartause – nach den Statuten des Ordens eine Synthese von klösterlicher Gemeinschaft und Einsiedlertum - ist ihm Musterbeispiel für die Verbindung von Individualität und Gemeinschaftsleben: Bibliothek, Refektorium (Esssaal), Arbeitsräume, Kirche, alles verbindender Kreuzgang, und der abgegrenzte Bereiche des Einzelnen im Einsiedlerhaus mit der Zelle. 1911 lebte Jeanneret mit dem Freund Klipstein 21 Tage lang auf dem Berg Athos, studierte dort 15 orthodoxe Klöster. Auf dem Rückweg dieser legendären Reise besucht er erneut die Kartause Ema. "Me vioci de nouveau à la chartreuse d'Ema. Cette fois, J'ai dessiné, aussi, les choses me sont mieux entrées dans la tête...Et je suis parti dans la vie pour la plus grande bagarre. J'avais 23 ans. Dans cette première impression d'harmonie, chartreuse d'Ema, le fait essentiel, profond ne devait m'apparaître que plus tard - la présence, l'instance de l'instance de léquation à résoudre confiée à la perspicacité des hommes: le binôme: " individucollectivité ". Mais la solution porte également une lecon tout aussi décisire celle-ci: pour résoudre une lecon tout aussi décisire celle-ci: pour résoudre une grande part des problèmes humains, il faut disposer de lieux et de locaux. Et c'est de l'architecture et de l'urbanisme. La chartreuse d'Ema était un lieu, et les locaux étaient présentes, améagés selon la plus belle biologie architecturale. La chartreuse d'Ema est un organisme. La terme " organisme " avait pris naissance dans ma conscience. "
Nach dem Raum-Prinzip der Kartause entwarf LC seine Hütte in Rocquebrune, wobei das Leben in der Gemeinschaft der Aufenthalt bei Eileen sein wollte und bei dem benachbarten Restauranteigentümer. Nach demselben Prinzip baute sich Le Corbusier seine kleine Zelle wie eine Einsiedelei in den beinahe endlos tiefen Raum des Büros in der Rue de Sèvres im Jahre 1947. Er gibt sich in Gesellschaft gerne als Einsiedler, der die Welt der Melancholie bewohnt, gemäß seiner Identifikation mit dem Steinkopf. Die Einsiedelei, der Drang alles auf das Existenzminimum zu reduzieren, vermittle ihm die Erfahrung des absolut Geistigen, der "fructus spiritualis".
Le Cabanon ist renoviert und für die Ewigkeit haltbar gemacht. Jede Malerei ist sorgsam wiederhergestellt. Robert Rebutato hat die kleine Camping-Siedlung von seinem Vater geerbt. Er stöhnt über die Leute, die sommertags an den Türen kratzen, jene kreisrunde Brillen tragende Le-Corbusier-Fans. Jetzt hat Rebutato alles dem französischen Staat geschenkt, damit der saniere und restauriere, so gut wie er es selbst eben nicht kann.
Der Anblick der E.1027 dagegen ist ein Trauerspiel. Die weiße Villa am Meer, die schimmernde Perle hat jeden Glanz verloren. Der Beton bröckelt, die Gitter rosten, seit Jahren ist E.1027 unbewohnt. Im Untergeschoss sortiert ein junger Architekt Schrauben und Scharniere in ausrangierte Marmeladengläser. Jedes Fundstück eine Sensation, denn fast nichts ist mehr da. Die Einbauten sind größtenteils zerstört. Doch wie E.1027 sanieren? Originalmöbel von Eileen Gray erzielen auf Auktionen inzwischen Millionensummen. Und die Malereien von Le Corbusier? Es gibt einen komplizierten Streit unter Architekten und Historikern: Wird die Villa im Sinne Eileen Grays wiederhergestellt, müssen die Fresken des Maître weg. (vgl. Grit Lederer, zusammen mit dem Berliner Fotografen Maurice Weiss)
Der Gedanke liegt nahe, (siehe einen Vortrag von Beatriz Colomina), daß die Villa als Topos der Moderne des Gegenstücks der sich verbunkernden Hütte bedarf. Sie erst bietet dem ungehinderten Blick des modernen Subjekts den geschützten Raum, wo der Beobachter, selbst für die anderen unsichtbar, sich sicher sein darf, in seiner Beobachtung der Nachbarn nicht gestört und in seiner Nacktheit peinlich überrascht zu werden. Während die Bewohner der gläsernen Pavillons den Blicken der anderen ungeschützt ausgesetzt sind. LC hat vorgemacht, wie man als Spanner den Spieß der Moderne umdrehen kann.
Mittwoch, 9. März 2011