die Religion der Normalität
Religionen und ihre Intransigenz sind nicht durch Säkularisierung aufgehoben oder durch etwas anderes ersetzt, sondern das Säkulare hat das Religiöse aufgesaugt. Das aufgeklärte Bewußtsein hat das Prinzip der Religionen in sich aufgenommen und in eine neue Form gebracht. Es hat sich dadurch nur an einen anderen Ort verlagert und unsichtbar gemacht. Das Eiferertum und die Gnadenlosigkeit der Kreuzzüge und Rituale, die im Namen von Normalität und Vernunft und Gesundheit geführt werden, sind nicht weniger brutal und barbarisch, als es die im Namen der Religion waren.
Die Verknüpfung von Arbeit mit dem sozialen Ansehen, die Identifizierung des Besitzes eines Arbeitsplatzes mit der Erlaubnis zu leben, ersetzt die Erlaubnis durch die Befolgung der religiösen Vorschriften. Das Funktionieren und die Arbeitsbereitschaft verbunden mit der Bereitschaft, sich an allen Fehlschlägen und an jedem Nicht-Gebrauchtwerden selbst die Schuld zu geben, sind die neue universale Religion, deren Monotheismus sich von der Vorstellung des Göttlichen gelöst hat. Wenn die Religionen noch einen Rest an Souveränität und Freiheit zugestanden haben, wird die Menschheit in der abstrakten Religion der Arbeit gänzlich und insgesamt in eine Sklavenarmee umgeformt. Die kirchlichen Reformen haben die Lage noch verschärft. Die industrielle Reservearme, von der Marx sprach, gibt es, weil die Individuen von Luther darauf getrimmt sind, sich schuldig zu fühlen und keine anderen Schuldgründe mehr zuzulassen. Die Entlastung, die das antike Fatum und auch noch Augustins Erbsünde bot, ist als notwendiges Gegengewicht ersatzlos seiner Geltung beraubt. Das Existenzproblem der christlichen Kirchen ergibt sich daraus.
Die Kirche wird als Normalisierungsinstrument nicht mehr gebraucht. Der Konsum und die Arbeitsverpflichtung haben das längst übernommen. Solange die Kirchen nicht erkannnt haben, daß ihre Funktion und Existenzberechtigung nicht in der Verbreitung und Pflege von Religion besteht, sondern in der Aufgabe als Normalisierungsinstrument bestanden hat, werden sie dem Problem des Mitgliederschwundes nicht begegnen können. Sie müßten sich heute als korrektiv im Normalisierungsprozeß ins Gespräch bringen, der mittlerweile ohne sie vonstatten geht. Wenn man von Arbeit spricht, denkt man gewöhnlich an die Arbeit am Fließband oder an der Ladenkasse. Arbeit ist inzwischen aber auch all das, was wir für Freizeit und Konsum halten. Wir machen die Arbeit, die Firmen und staatliche Einrichtungen anbieten, längst selbst. Mit unseren Konsumstandards bei Wohnen oder Kleidung, Autofahren etc. leisten wir Werbungsarbeit. Indem wir das Internet benutzen, hinterlassen wir Spuren, die sich zu Geld machen lassen. Die Renditen, die auf dem Gebiet des Datenhandels gemacht werden, übersteigen inzwischen die in der Schwerindustrie. Arbeitslose sind nicht deshalb ein gesellschaftliches Problem, weil sie nichts produzieren, sondern weil sie sich die auf den Markt kommenden Waren nicht leisten können.
Dienstag, 17. Mai 2011