Kachelmann

 

Unabhängig davon, ob nun des Rufmordens zumindest vorläufig ein Ende ist, oder man einen Verbrecher laufen läßt, hat dieser Prozeß etwas zutage gefördert, was zu denken gibt. Während die Medien und Journalisten ihr Fett abbekommen haben, auch das Gericht der Materialschlacht wegen in die Kritik geriet, blieben die Gutachter im Einzelnen ungeschoren. Man sollte sich aber ein Detail vor Augen führen, nämlich, daß die Staatsanwaltschaft neben Traumatologen und Glaubwürdigkeits-Gutachtern auch über die psychischen Verhältnisse von Herrn Kachelmann einen Gutachter hat spekulieren lassen. Wie man vermuten muß, weil die Staatsanwaltschaft nicht wahr haben wollte, dass dieser Prozess aus ihrer Sicht nicht mehr mit einer Verurteilung enden kann, wie Monika Frommel, Direktorin für Sanktionsrecht und Kriminologie der Universität Kiel, in einem Interview im dradio am Tag der Urteilsverkündung voller Empörung anmerkte.

Was mit Hilfe eines derartigen Gutachtens erreicht werden soll, das war Gegenstand einer der letzten Vorlesungen Michel Foucaults am Collège de France, über die „Anormalen“. Es kommt seiner historischen Übersicht zufolge immer dann zur Anwendung, wenn ein Fall aufgrund dürftiger Indizienlage nicht zur Verurteilung führen kann, um untunliche Freisprüche zu vermeiden.

Wir haben es, wie Foucault feststellte, bei einem psychiatrischen Gutachten im Gerichtsverfahren mit einem besonderen Wahrheits-Diskurs zu tun. „In ihm vollziehen sich eine Reihe von Substitutionen oder Verdopplungen, die Einführung einer Reihe von Doubletten“. (S. 32) Es dient der „Ersetzung der Tat durch die Person und damit der Verdopplung des Täters. Es geht um die Verschiebung der Effekte der juristischen Macht. Das Gutachten ermöglicht, das vom Gesetz definierte Delikt durch etwas zu verdoppeln, was nicht das Delikt selber ist, sondern eine Serie von Verhaltensweisen und Seinsweisen, die als Ursache, Ursprung, Motivation des Deliktes in Frage kommen. (S. 33) Sie sollen bei schlechter Beweislage die strafbare Materie abgeben. Das Fazit im Fall Kachelmann hieß, nicht ausbalancierte Persönlichkeit. Begriffe, die in solchen Gutachten immer wieder auftauchen, verraten das Prinzip: psychologische Unreife, wenig strukturierte Persönlichkeit, schlechte Realitätseinschätzung, affektives Ungleichgewicht, emotionale Störungen, Kompensation, imaginäre Produktion, Manifestationen pervertierten Stolzes, Herostratentum, Alkibiadismus, Donjuanismus, Bovarysmus. (S. 33, 15) Sie haben haben den Zweck, die Seinsweise der Person als das Delikt selbst erscheinen zu lassen, das Realitätsniveau des Vergehens von der Tat zur moralischen Doublette des Täters zu verschieben. „Da solche Verhaltensweisen nicht strafbar sind – kein Gesetz kann eine emotionale Störung verhindern oder sich gegen übertriebenen Stolz richten – geht es darum, „ein psychologisch-ethisches Doppel des Delikts zu erstellen“; das Vergehen, wie es im Gesetz formuliert ist, aus dem Gesetz herauszunehmen, „um hinter ihm sein Double auftauchen zu lassen, das ihm wie ein Bruder gleicht“, und aus ihm eine Abweichung im Hinblick auf gewisse Regeln psychologischer und moralischer Art zu machen. (S. 34) Nicht das Delikt wird letztlich verurteilt, sondern die Person, die aufgrund ihrer Eigenschaften zu dieser Tat als fähig erachtet wird. „Was der Richter verurteilen und bestrafen wird, der Punkt, auf den sich die Bestrafung beziehen wird, sind eben diese abweichenden Verhaltensweisen, die als Ursache, als Ausgangspunkt, als Ort der Entstehung des Verbrechens vorgestellt werden und doch nur dessen psychologische und moralische Doublette gewesen sind.“ (S. 36)

Das Gutachten versucht, das Vorleben zu beschreiben, das diesseits der Straffälligkeit liegt, etwa durch das Feststellen einer Vorliebe zu herrschen und Macht auszuspielen und Stolz zu zeigen. Man sagt zum Beispiel: Er arbeitete schon seinen Eltern gegenüber mit emotionaler Erpressung, konnte es bereits als Kind nicht leiden, wenn sich man sich seinem Willen widersetzte. (S. 37ff) Es geht bei dieser Behauptung, daß sein Begehren grundsätzlich schlecht war, um den Nachweis, wie ähnlich die Person seinem Verbrechen bereits vor dessen Ausführung gewesen ist. Es wird eine Krankheit nachgezeichnet, die eigentlich keine ist, weil sie eine moralische Schwäche ist. Die Serie solcher Grenzwertigkeiten nachzuzeichnen, sei aber das genuine Geschäft der Psychiater. Aus dem verantwortlichen Rechtssubjekt ist unversehens ein Objekt geworden: das Objekt einer Technologie und eines Wissens der Wiedergutmachung, der Wiederanpassung, der Wiedereingliederung und der Züchtigung.

Die Entwicklung von Normalisierungstechniken und das Zusammenwirken mit den damit verbundenen Mächten ist nicht nur einfach das Resultat der Begegnung von medizinischem Wissen und gerichtlicher Macht, sondern es hat sich dabei ein eigener Typus von Macht gebildet, der beide kolonisiert, ein Machttypus, der in die theatralische Szene des Gerichtsverfahrens mündet und dabei Regeln und Autonomie in sich selbst hat.

Man sollte Foucault zufolge viel stärker das Augenmerk auf die Arbeitsweise dieser Normalisierungsmacht und ihre Souveränität richten, als sich mit der Psychiatrie als Sonderbereich der Medizin zu befassen. Die Psychiatrie als Normalisierungsmacht und soziale Hygiene-Agentur, das ist das Thema, das dieser Prozeß auf die Agenda gebracht hat.

Die „Gutachter“ üben eine Macht aus, die als die angemaßte Macht der Normalitätskontrolle identifizierbar ist, als deren Urbild Foucault Alfred Jarrys Figur des König Ubu erkannte. Damit diese Anormalitäts-Diagnose gestellt werden kann, muß sich jemand die Fähigkeit anmaßen, einen anderen Menschen zu durchschauen und ihn dafür zu verurteilen. Urbild dieser Anmaßung ist in Foucaults Augen Alfred Jarrys grotesker König Ubu. (S. 27) Der psychiatrische Gutachter ist ein Ubu, er verkörpert die Infamie der Souveränität. (S. 30). Er disqualifiziert sich und macht sich lächerlich, indem er sich vor Gericht in seinem Diskurs der Angst zu einer Person äußert, die auf der Anklagebank sitzt und jeder Macht beraubt ist, während er selbst im Schoß der Institution sicher ist: Der Angeklagte bereitete seinen Eltern Sorgen, er fehlte in der Schule, er war faul, er lernte seine Lektionen nicht, woraus man schließen muß, daß er es an Verantwortung mangeln ließ und gerade darum für seine Tat verantwortlich ist. „Im Herzen eines Mechanismus, in dem die Justizmacht feierlich dem medizinischen Wissen weicht, können Sie Ubu auftauchen sehen, ungebildet und verängstigt zugleich, der doch von dort aus diese doppelte Maschinerie präzise in Gang setzt. Die alberne Posse und das Amt des psychiatrischen Sachverständigen gehören zusammen: der Beamte ist tatsächlich ein Kindskopf.“ (S. 54)

Foucault liefert eine genetische Erklärung für das Auftauchen des Gutachtertums um 1800. Der Grundsatz, daß jemand für eine Tat, die er im Zustand der Demenz oder unter Einfluß einer größeren Macht beging, nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, der bis heute gilt, zwang zu dieser Unterscheidung. „Der Wahnsinn läßt das Verbrechen verschwinden, und das Verbrechen kann nicht eine Tat sein, die im Wahnsinn wurzelt“. Da auf diese Weise bestimmten Gefahren für die Gesellschaft nicht begegnet werden kann, hat an die Stelle dieser Teilung das medizinische Gutachten andere Mechanismen treten lassen. Sie begründen ein medizinisch-rechtliches Kontinuum, in dem Rechtssystem und Medizin verschweißt werden. Ein Aspekt dieses Kontinuums ist das „Prinzip Perversität“. Es gilt dabei, eine Verbindung herzustellen zwischen der Tat, die nur dann bestraft werden darf, wenn es die Absicht und den Vorsatz gegeben hat, jemandem zu schaden, und medizinischen Begriffen wie Unreife, Ich-Schwäche, Nicht-Entwicklung des Über-Ich, Charakterstruktur etc. (S. 49)

Besondere Affinität zeigt das Gutachterwesen zu (vermeintlichen) sexuellen Delikten, bei denen man es mit dem „sexuellen Abweichler“ zu tun hat. Das Prinzip Perversität erlaubt es, medizinische Begriffe im Bereich der Rechtsprechung funktionieren zu lassen und umgekehrt. Dies entspricht einer alltäglichen Praxis, bei der einem Kind, das mit schlechten Noten nach Hause kommt, prophezeit wird, daß es einmal auf dem Schafott enden wird. (S. 50) Zwischen der elterlichen Strafmaßnahme oder ihrer Androhung und dem gerichtlichen Todesurteil ist ein Kontinuum hergestellt. Beide werden durch ein durchgängiges Netz von Institutionen miteinander verbunden. Dabei entsteht das „gefährliche Individuum“, das weder krank noch eigentlich kriminell ist und doch beides zugleich sein soll.

Der Sprach-Typus ‚Gutachten’ liegt um ein Vielfaches unterhalb des epistemologischen Niveaus der Psychiatrie. Dennoch wird er zum Standard der Diagnostik und Therapie-Praxis und vor allem zum Maß juristischer Urteile. „An der Wiege dessen, was sich da auftut, was sich öffnet in einer Art kultureller Regression, Selbstdisqualifizierung und Dekomposition des psychiatrischen Wissens, steht die Ineinssetzung von Perversität und Gefahr, die die Justizmacht des Arztes und die medizinische Macht des Richters dringlich fordert, was nur einhergehend mit einer Herabminderung der fachlichen Kompetenz möglich ist.“ Das psychiatrische Gutachten kann sagen, wie der Angeklagte das Verbrechen begangen hätte, weshalb er es dann schon so gut wie begangen hat. Anstatt des Schuldigen kann man nun einen Verdächtigen verurteilen. Das Gutachten transformiert den Verdächtigen auch bei stockenden Ermittlungen in einen Schuldigen.

Das Ritual, das hier zelebriert wird, ist die Absetzung eines Königs, als Inversion der Thronbesteigung. Der Verrückte war für die Psychiatrie immer jemand, der sich für einen König hielt, d.h. jemand, der seine Macht gegen jede etablierte Macht ... zur Geltung bringen will“. (S. 158) Alle aufgrund psychiatrischer Gutachter Verurteilte sind Nachfolger Ludwigs XIV.

Daß Kachelmann trotz der Gutachten freigesprochen wurde, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, welche Gefahren sichtbar wurden.


Zitate aus: Michel Foucault, Die Anormalen, Suhrkamp Ffm. 2007

 

Mittwoch, 1. Juni 2011

 
 
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