als Radfahrer

 

Wenn Leute in ihr Auto steigen oder aussteigen, dann haben sie kein Auge für Radfahrer. Das gilt bis auf sehr sehr wenige Ausnahmen. In den 50 Jahren, die ich radfahre, gab es höchstens 3 Ausnahmen. Polizisten sind von dieser Statistik der Schande nicht ausgenommen, im Gegenteil, sie stoßen die Autotüren mit besonderem Schwung auf und scheren sich einen Dreck darum, wieviel Platz auf der Straße ihr Auto einnimmt. Sie sind in der Hinsicht die größten und gefährlichsten Idioten. Ich frage mich, ob man daraus schließen muß, daß Autofahrer generell schwachsinnig sind. Eine Erklärung könnte darin liegen, daß Menschen ihr Auto nicht als Objekt im Raum ansehen, das für andere ein Hindernis darstellt, sondern, sobald sie sich ihm auf 50 cm genähert haben oder solange sie sich noch nicht weiter als 50 cm von ihm entfernt haben, als Teil ihres Körpers oder sich als Teil des Autos. Sie achten, wenn sie ums Auto herumgehen oder die Tür öffnen, nicht auf andere Verkehrsteilnehmer. In diesem Zustand sind sie keine Verkehrsteilnehmer, sondern Mensch-Auto-Körper und zwar der einzige Körper auf der Welt, als Autist. Zugleich sind sie nicht als Körper existent, weil sie nur der geometrische Mittelpunkt der Welt sind, nur das ideelle ausdehnungslose Zentrum der Welt, mit den Abmessungen des Autos als Prothese des eigenen Körpers, der nur Sitz des Auges ist. Die Sinneswahrnehmung dieses Zentrums beschränkt sich auf andere Mensch-Auto-Körper. Allenfalls werden Fußgänger noch mit zugelassen, aber Radfahrer werden unsichtbar. Die Fähigkeit, die Perspektive des anderen einzunehmen, die man bereits als Kleinkind erwirbt, ist dann ausgeschaltet. Als dieses Hybridwesen fällt der Mensch auf das kognitive Niveau eines erst einige Wochen alten, noch ungeborenen Fötus zurück.

Um dem Risiko, daß einer der Fahrer der am rechten Rand oder auf der Überholspur stehenden Autos, ohne in den Rückspiegel geschaut zu haben, die Fahrertür öffnet, welches extrem hoch ist, nämlich 100%, vorzubeugen, müßte man mit einem Abstand von eineinhalb bis zwei Metern an ihnen vorbeifahren. Autos, die sich währenddessen mit aus der Sicht des Radfahrers viel zu hoher Geschwindigkeit von hinten nähern, gönnen einem Radfahrer aber höchsten 20 cm. Eben so viel, wie vorhanden ist, ohne die Spur wechseln zu müssen. Wenn man also die notwendigen Abstand hält, riskiert man, von hinten über den Haufen gefahren zu werden. Das wird einem täglich hundertfach klar, wenn die Autos nicht auf die andere Spur wechseln, sondern, als wären sie Straßenbahnen, ihre Spuren wie auf Schienen einhalten und an einem vorbeischrammen, daß man vom Fahrtwind beinah umfällt. Man muß also das Risiko eingehen, in eine geöffnete Tür hinein zufahren und drüber zu fliegen oder sich an seiner Kante den Schädel zu spalten. Das geschieht bei einer halbstündigen Tour tausendfach. Man sieht sich von den Autofahrern gewaltsam gezwungen, in jeder Sekunde schwerste Verletzungen erleiden zu können.

man fragt sich als Radfahrer, wo all die Autofahrer ihren Führerschein gekauft haben, oder ob man in der Fahrschule die angehenden Fahrer nicht darüber aufklärt, daß es Radfahrer gibt.

Wenn die Fahrertüren, wie noch zu meiner Kindheit, vorne angeschlagen wären, wäre der Aufprall nicht so gefährlich. Niemand hat je erwogen, mit Rücksicht auf Radfahrer dahin zurückzukehren.

Daß ein Abstand von nicht mehr 15 cm von Radfahrer beim vorbeifahren mit drei- bis achtfacher Geschwindigkeit nicht ausreicht, selbst dann nicht, wenn es das Türenproblem nicht gäbe, ist jedem Kretin klar, einem Autofahrer jedoch nicht.

Fußgänger übersehen einen vollständig. Wenn sich ein Auto nähert, warten sie respektvoll am Straßenrand. Wenn man sich ihnen aber als Radfahrer nähert, gehen sie drauf los, als wäre man Luft. Ich nehme an, sie sehen einen tatsächlich nicht. Man ist für sie unsichtbar.

Daß in unmittelbarer Nähe eines Radfahrers zu hupen, weil die Hupen immer lauter werden mußten, daß sie auch für den in der Kapsel, womöglich noch mit Radio in voller Lautstärke oder mit Knopf im Ohr, also fast völlig schwerhörig, zu hören sein müssen, und darum einem Radfahrer ohne Raumkapsel das Trommelfell wegfliegt, sich absolut verbietet, darauf ist keiner der Millionen Autofahrer bisher gekommen.

Das gleiche gilt für die Sirenen deutscher Krankenwagen, die immer lauter geworden sind. Fußgänger können sich noch die Ohren zuhalten. Für Radfahrer ist das schon schwieriger. Sie trifft der Lärmterror ungeschützt. Gewerkschaften und Berufsgenossenschaften würden die Arbeit auf einer solchen Baustelle verbieten.

Kürzlich war im „Spiegel“ zu lesen, wie Verkehrspolitiker über diese Problematik denken: Die Radfahrer seien an den Unfällen selber schuld, weil sie sich nicht an die Regeln halten. Bravo! Die Politik, soweit die für Radfahrer lebenswichtig ist, wird von freilaufenden Kretins gemacht. Ich hab schon oft gesehen, daß man mit einem Aufgebot von 6-8 Polizisten Radfahrer-Razzien gemacht hat, um denen, die tagsüber kein Licht und keine Klingel an ihrem Rad haben, Strafen zahlen zu lassen. Daß Autos, die auf Radwegen parken oder die Vorfahrt mißachten, von der Polizei gerügt worden wären, hab ich dagegen noch nie erlebt. Daß Vorsorge dafür getroffen wäre, als Radfahrer vor abbiegenden Autos und Lastwagen geschützt zu sein, kann man ebenfalls nicht behaupten, Im Gegenteil. Der Zwang, auf den viel zu schmalen und wegen der Baumwurzeln und der schadhaften Pflasterung unbefahrbaren Radwegen, wenn es denn überhaupt welche gibt, fahren zu müssen, läßt die Gefahr, übersehen zu werden, erheblich ansteigen.

Autobesitzer und ihre Fahrzeuge bilden einen Hybrid. Das Auto wird zur Prothese des ohne sie unvollständigen menschlichen Körpers oder vielleicht sogar umgekehrt, wie in dem Film „Crash“ von David Cronenberg. Im Zusammenhang mit Unfallfetischismus erhält das Wort Auto-Erotik eine ganz neue Bedeutung.

Sobald ich dann zu Hause bin und im Sessel sitze, hab ich all das vergessen. Die Gedanken kamen mit der Muskelbewegung des Strampelns, als Abart der Nietsche‘schen Peripathetik, und haben sich mit dem Absinken des Muskeltonus in sich selbst zurückgezogen, dem Gedächtnis entschwunden wie ein Traum. 

Siehe: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/volltexte/2007/7925/pdf/Dissertation_Papenburg2007.pdf

 

Samstag, 25. Juni 2011

 
 
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