Mittelklasse

 

Zizek referiert die Theorie Laclaus, der sich wie auch Badiou und Rancière im Anschluß an Althusser mit dem von Croce eingeführten Begriff der Hegemonie auseinandersetzen. Anwendungsfälle für diesen Begriff bieten Turbulenzen beim Zusammenbruch einer Regierungsform, etwa der Monarchie in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg. Es geht um den Moment, wenn der zauberhafte Augenblick der Befreiung nach Absetzung des Monarchen oder der des Zusammenbruchs des Stalinismus in den Ostblockländern oder die Aufbruchseuphorie der nordafrikanischen Staaten verflogen ist, dann bleibt als Siginifikant, der als das erscheint, was Laclau „die abwesende Fülle der Gesellschaft“ nennt, nur Ehrlichkeit. Sie bildet den Kern der Spontanideologie der einfachen Leute, die sich in ihrer Hoffnung auf eine neue Fülle der Gesellschaft schon bald betrogen sehen, weil sie mit ansehen müssen, wie sich die alte Garde, die alten Seilschaften neu formieren und das sogenannte Volkseigentum unter sich aufteilen und den Rest der Bevölkerung unter dem Banner der Demokratie noch mehr ausbeuten als die Machthaber vorher. Im Nationalsozialismus hat die Enttäuschung freilich lange auf sich warten lassen.

Daß die einfachen Leute die besseren Menschen seien, ist bereits im Roman von Eugène Dabit „Hotel du Nord“, den Marcel Carné verfilmte, in Frage gestellt. Mit ihrer Spontanideologie sind die einfachen Leute besonders anfällig für diktatorische Bewegungen, wie sich wahrscheinlich auch in den arabischen Statten Nordafrikas zeigen wird.

Partikulare Inhalte kämpfen um die Hegemonie innerhalb einer Allgemeinheit. Wie aber kann ein einzelner Inhalt in seiner Aufgabe, Platzhalter für das Allgemeine zu sein, einen anderen verdrängen? Laclau nennt das Kriterium der „Lesbarkeit“: Alles hängt davon ab, wie überzeugend eine Gruppierung die Krise lesbar machen kann. Die Nationalsozialisten konnten die Krise der Weimarer Republik überzeugender lesbar machen als die bürgerlichen Parteien. Männer wie Putin konnten sich mit ihrem autokratischen Stil im Chaos des Postkommunismus besser bemerkbar machen als andere. Die Islamisten werden sich an die Spitze der Empörten setzen. In Deutschland profitieren momentan die Grünen von ihrem Ehrlichkeitsimage angesichts der Eurokrise.

Ehrlichkeit wird dann durch „den partikularen Inhalt überstrahlt, der die alltägliche Erfahrung mitwirkender Individuen überzeugender lesbar macht, es ihnen also in einem höheren Maße erlaubt, ihre Lebenserfahrung zu einer konsistenten Erzählung zu organisieren“. Die bürgerliche Erzählung war nicht in der Lage gewesen, für die Krise einen plausiblen Grund anzugeben. Der Antisemitismus vermochte dies auch überzeugender als die sozialistisch-revolutionäre Erzählung. Dabei ist es kein Sängerwettstreit, in dem „die Erzählung gewinnt, die der Wirklichkeit am adäquatesten ist. Die Erzählung bestimmt schon vorher, was wir als Wirklichkeit erfahren werden.“ (Zizek, Tücke des Subjekts, S. 243) Dasselbe Phänomen der Hegemonie der Lesbarkeit beobachten wir in jedem Gerichtsverfahren, in jedem Ehescheidungsstreit. Gewinnen tut stets derjenige, dessen Version leichter zu denken ist. Die Tugend oder Erwartung von Ehrlichkeit ist das Einfallstor für Manipulation, ist das trojanische Pferd.

 

Freitag, 22. Juli 2011

 
 
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