Normalität

 

In der Normalität befindet man sich immer ganz und gar. Selbst kritische Distanzierung verbleibt in ihrem Rahmen. Normalität ist stets total. Alles, was ist, totalisieren wir zur Normalität. Gleichwohl ist Normalität kontingent und von Epoche zu Epoche verschieden, zuweilen sind zwei historisch aufeinanderfolgende Normalitäten sogar diametral gegensätzlich. Der Nationalsozialismus, der Faschismus waren Normalität. Franco, Pinochet waren ebenfalls Normalität. Die Massenmörder von Serbien, die in Ruanda hatten die Normalität auf ihrer Seite. Sie war es, was ihnen den Rücken stärkte, was ihnen die Kraft gab, so zu handeln, wie sie handelten. Sie handelten in der Überzeugung, normal zu sein und der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen. Der Vietnamkrieg wie auch Bush’s Irakkrieg wurden geführt auf dem Boden und im Namen der Normalität. Heute stehen dieselben Leute, die eben noch normal waren, als pathologische Verbrecher vor Gericht, als wären sie immer schon Verbrecher gewesen. Was eben noch normal war, ist nun Abweichung. Wie schaffen wir das? Die katholische Kirche mußte Ketzer und Hexen verbrennen, Kreuzzüge haben dafür gesorgt, die Albigenser auszurotten, Onanie wurde als Todsünde und Krankheit verdammt. Die Normalität wie das Anormale und die Anormalen müssen immer wieder neu hergestellt werden.  Normalität muß in jeder Zeit neu konstruiert und hergestellt werden, wie auch das, was ausgestoßen und fremd gemacht werden muß und wie das jeweils zu geschehen hat. Camus zeigt in „Der Fremde“ die eigentliche Natur und Funktion von Gerichtsprozessen: daß der Angeklagte fremd gemacht werden muß, um ihn verurteilen zu können: Er hat am Sarg der Mutter nicht geweint. Im NS war es ein wesentlicher Teil der Normalität, eine Gruppe von Menschen fremd zu machen, als seien dies keine Menschen. Die Juden standen für etwas, was die Nazis, die Normalen, selbst taten, ohne sich dies eingestehen zu können, was als Eigenes nicht erkennbar werden durfte, nämlich das kapitalistische Wirtschaften und die Kriegsindustrie, die Modernisierung der Gesellschaft im Sinne und im Dienste des Kapitals. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges müssen die Nazis und das Nazi-Sein fremd gemacht werden. Heute stehen sie für etwas, das wir uns nicht eingestehen dürfen. Der unverstandene Schock der Hannah Ahrendt war, daß der Naziwahnsinn der Amoklauf der Normalität selber war. Diese Erkenntnis mußte nach dem Krieg diskriminiert, verunglimpft und verharmlost werden. Jenninger mußte nach seiner Rede isoliert werden. Bei dieser Aktion haben alle mitgemacht. Es war ein kollektives Reinigungsritual, eine Exorzismus, eine Austreibung. Daß der Nationalsozialismus Normalität war, ist nach seinem Untergang eines der stärksten Tabus. Es gibt immer wieder Figuren, in denen die Probleme der Normalität mit sich selbst zutagetreten, z.B. Jeanne d‘Arc, die heilige Johanna. Eine andere mit der Frage der Normalität verbundene Figur ist der Blade Runner: Er verkörpert die Frage: Wie schützt sich die Gesellschaft gegen Scheinnormale und wie kann sie diese erkennen (Turing-test). Die Rechten meinen immer auf der Seite der Normalität zu sein. In ihnen hat die normalität ein Problem mit sich selbst. Dieses Problem ist, solange rechte Politik an der Macht ist und rechte Anschauungen den Status der Normalität genießen, nicht sichtbar. Es wird erst sichtbar, wenn jemand in einer sich friedfertig und tolerant verstehenden demokratisch verfaßten Gesellschaft die rechten Überzeugungen unverblümt äußert und nach ihnen handelt. Wer dies tut, ist ein Idiot der Normalität. Der Amokläufer Breivik ist ein solcher Idiot der Normalität. Die Gesellschaft ist ihm gegenüber nicht zufällig ratlos. Man möchte diesen B. für verrückt erklären, aber dann dürfte er nicht verurteilt werden. Also muß man einen weg finden, ihn für verrückt zu halten und dennoch verurteilen zu können. Sich anzusehen, wie die Gesellschaft auf einen solchen Menschen reagiert, ist vielleicht aufschlußreicher, als zu fragen, was mit ihm los ist.  Alle schauen immer auf den Amokläufer oder den Terroristen und sehen nichts. Man blickt in ein irres Grinsen und in die weit aufgerissene Augen desjenigen, der sich mit uns zugewandtem Gesicht in rasendem Tempo aus unserer Mitte entfernt, wie Klees Angelus Novus. Was sieht er, was ihn so erschreckt und verrückt macht? Sieht er, was die Normalität als ihre eigenen inneren Widersprüche vor sich selbst verbergen muß? Niemand schaut aus seiner Richtung auf die konsternierte und ratlose und in einem Amoklauf der Normalität befangene Gesellschaft. Die kollektive Herstellung der Normalität darf als Herstellung nicht bewußt sein. Sie ist das gesellschaftliche Unbewußte: das, was wir selber tun, ohne dies wissen zu dürfen. Bei der Reaktion auf die Finanzkrise geschieht etwas Ähnliches. Die Finanzkrise muß als Resultat von Verstößen gegen Regeln angesehen werden, als Verletzung der Normalität kapitalistischen Wirtschaftens. Wenn sie nun aber selbst die Gesundheit des Kapitals wäre und wir sie als solche nicht erkennen dürfen, weil wir uns dies verbieten? Das Krisenmoment muß fremd gemacht und isoliert werden wie eine Wunde am Bein, zu der die weißen Blutkörperchen hinströmen. Der Körper erkennt sich im Fieber nicht als derjenige, der das Fieber selber macht, um sich gegen etwas zu wehren. Die kopflosen Reaktionen der Gesellschaft auf den Amokläufer, das heißlaufende Reinigungsritual sind das Fieber des Gesellschaftskörpers. Der norwegische König wie der Präsident des Landes beschwören die Werte der westlichen Demokratie. Aber das, was unserer Gesellschaft innere Konsistenz verleiht, sind das denn wirklich unsere Werte? Was uns zu Normalen macht, muß das nicht etwas anderes sein? Cervantes hat in seinem „Don Quixote“ das heldenhafte Einstehen für Werte dargestellt als das, was uns lächerlich macht, was zwecklos ist und wofür wir mit Recht verachtet und verspottet werden. Der Mann, der den jungen Knecht auspeitscht, macht damit weiter, sobald der Ritter außer Sicht ist, und der Junge weiß das. Was aber ist es dann, was unsere soziale Welt im Innersten zusammenhält? Umgekehrt gefragt: Was muß ich falsch gemacht haben, um für verrückt erklärt zu werden oder als Verbrecher verurteilt zu werden? Werte und Normen gelten nicht, weil wir Normalen uns nach ihnen richten, sondern weil wir uns darauf verlassen, daß die anderen sich nach ihnen richten, auch wenn das ein Irrtum oder ein Wahn ist, oder gerade deshalb. Wir dürfen nicht wahrhaben, daß sich die Normalität selbst mißverstehen kann. Was bewahrt uns andere davor, uns als Normale selber mißzuverstehen? Oder wieso dürfen wir uns so viel darauf einbilden, uns im Amokläufer nicht selber wiederzuerkennen?

 

Montag, 15. August 2011

 
 
Erstellt auf einem Mac

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