Lügen und Glauben

 

Einem ethnologischen Befund zufolge, den Zizek referiert, waren einige Aborigines so blöd, anzunehmen, der wahre Vater eines Kindes sei ein Stein, ein Tier oder ein Geist, obwohl sie wohl wußten, daß die Mutter vom leiblichen Vater befruchtet wurde. Abgesehen davon, daß Christen noch blöder sind, da sie nicht nur annehmen, Jesus Vater ein Geist, sondern darüber hinaus auch annehmen, Jesus sei von einem solchen Geist mit einer Jungfrau gezeugt worden, kommt in dem Befund etwas Allgemeines zum Tragen, nämlich die Tatsache, daß wir unterscheiden zwischen dem realen Vater und seiner symbolischen Funktion. In der Terminologie der Psychoanalyse kommt diese Unterscheidung zur Geltung in der Trennung von Ich-Ideal und verbietendem Über-Ich, verkörpert im persönlichen Vater, dem nachzueifern ist, und im symbolischen Vater, dessen Aufgabe ist, durch seine Verbote die Integration des Kindes in das symbolische Universum der Gesellschaft zu sorgen. Bei Lacan kommt hinzu die Rede vom großen Anderen im Unterschied zum kleinen anderen, und die Verwandlung des Vaters in den Namen-des-Vaters. Wenn nun im bürgerlichen Familienvater beide Aspekte in einer Person vereinigt sind, handelt man sich das Risiko ein, daß die Autorität des Vaters durch seine obszöne Lust beschmutzt und von innen her unterminiert wird. Die Figur der väterlichen Autorität schlägt um in etwas, in dem Raserei und Ohnmacht zusammenfallen: ein in der Rivalität mit seinem Sohn gefangener Vater, der sich gerade hierin erniedrigt. Der Vater irrt sich und macht sich lächerlich, wenn er glaubt, seine Autorität rühre direkt von seiner Person her und nicht vom symbolischen Platz, den er besetzt. König Lear mußte das erfahren: seines symbolischen Titels beraubt, ist er nichts mehr als ein wütender, ohnmächtiger, alter Narr.

So wie wir dem monotheistischen Gott seinen ungerechten Zorn verzeihen, und dem polytheistischen Olymp die Gemeinheiten und Laster, so sorgen wir normalerweise auch dafür, dem Vater seine Lächerlichkeit zu ersparen. Gott ist tot, aber er muß es ja nicht wissen. Er war ja schon immer tot. Darin sind wir wie Antigone, die eine Beziehung zum großen Anderen unterhielt, indem sie darauf bestand, ihren Bruder zu bestatten, und davon ausging, daß sie damit im Recht sei. Wir wissen, daß wir dem Vater seine Lächerlichkeit und Gott die Erkenntnis, tot zu sein, ersparen. Der Psychotiker, der Worten (seinen eigenen und denen des signifikanten anderen) eine unmittelbare Wirksamkeit zuschreibt, ist jemand, der glaubt, daß der große Andere wirklich existiert.

Zizek erinnert in diesem Zusammenhang an eine Szene in einem Film der Marx-Brothers, in der sich Groucho bei einer Lüge ertappt sieht und zornig antwortet, „Wem glaubst du mehr? Deinen Augen oder meinen Worten?“ Die absurde Logik verdeutliche die Funktion der symbolischen Ordnung, „in der die symbolische Maske, das symbolische Mandat mehr zählt als die unmittelbare Wirklichkeit des Subjekts“. Auf dieselbe Weise behandeln wir etwa Richter in einem Verfahren. Auch wenn wir wissen, daß er ein korruptes Schwein oder ein Schwächling ist, behandeln wir ihn „mit Respekt, da er die Insignien des Richters trägt und es deshalb das Gesetz ist, das durch ihn spricht.“ (Tücke des Subjekts, S. 444) 

Die sich darauf etwas einbilden, sich nicht täuschen zu lassen, bei Mark Twain heißt das  debunking, und dessen Helden sind Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Lacan spricht von den non-dupes errent. Sie sind bei ihm aber nicht diejenigen, über die man mit Recht lacht, die Trottel, die man bescheißen kann – die bescheißen, sagen, daß sie beschissen werden wollen - sondern die, die am meisten irren. Das ist auch die unverstandene Lektion des Pinocchio. Ohne ein Minimum an Idealisierung und fetischistischer Verleugnung der Mängel unserer Nächsten könnten wir nicht leben und vor allem nicht lieben. Ohne den Glauben an das Gute im Menschen (Anne Frank), ohne Vertrauen denen gegenüber, die trotz aller Indizien ihre Unschuld beteuern (Clinton), gäbe es keine Gesellschaft, keinen Staat.

Wenn vielfach behauptet wird und seit 70 Jahren die Psychoanalytiker die These diskutieren, daß das ödipale Subjekt verschwindet zugunsten eines narzißtischen Individuums, das nicht erwachsen werden will, dann verfehlt man den springenden Punkt. Der vielbeschworene Untergang des Ödipus ist nur ein Nebeneffekt des eigentlichen Problems. Das Problem liegt nicht darin, daß Subjekte heute mehr in Auflösung begriffen sind als das früher, in den angeblich so guten alten Tagen des mit sich selbst identischen Ich der Fall war, sondern daß die symbolische Vermittlung ihre Wirksamkeit eingebüßt hat. Tatsächlich gibt es den großen Anderen nicht mehr. Dies impliziert, „daß die symbolische Fiktion, die mir auf einer Ebene meiner Identität einen performativen Status verleiht, also festlegt, welche meiner Handlungen ‚symbolische Wirksamkeit’ haben werden, selbst nicht länger vollständig wirksam ist.“ (ebenda) Wir müssen selbst reflexiv für die symbolische Bedeutung unseres Handelns und Denkens sorgen und dürfen uns dessen doch nicht vollständig bewußt sein, damit es funktioniert. Wir müssen so überzeugend spielen, daß wir uns unsere eigen Lügen selber glauben.

 

Samstag, 20. August 2011

 
 
Erstellt auf einem Mac

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