signatura rerum
Normalerweise wissen wir - im Unterschied zu einer Theateraufführung, einem Roman oder einem Kunstwerk etwa - wenn sich auf der Straße ein Unfall ereignet, daß dies nichts bedeutet. Wir fragen uns nicht, was will man mir damit sagen. Es kann allerdings passieren, daß ich das Geschehen um mich herum in der Weise erlebe, daß alles den Charakter einer Mitteilung besitzt, die speziell an mich persönlich gerichtet ist. Ich befinde mich in einem Beziehungswahn: ich setze mich in den Perspektivenschnittpunkt.
Das christliche Mittelalter kennt den theologischen Topos der Signatura rerum. Das eigene Leben erscheint als Text, der eigens für mich geschrieben wurde. August Strindberg hatte den Plan, einen Text in diesem Sinne zu schreiben. Der Auslöser schien ihm beliebig. Eine einem über den Weg laufende Straßenbahn kann diese Erkenntnis offenbaren.
Mystiker des 17. Jh wie Jacob Böhme haben diesen Topos in besonderem Maße kultiviert. Er ist eingebettet in eine Erkenntnistheorie, derzufolge alle Erscheinungen der Welt als Elemente des Kosmos oder der göttlichen Schöpfung Zeichencharakter besitzen, der Überzeugung zufolge, daß die göttliche Schöpfung nur dann einen Sinn hat, die Arbeit Gottes nur dann nicht sinnlos war, wenn der Adressat sie auch erkennt und zu würdigen weiß, wenn er sich angesprochen fühlt. Die Welt wurde insgesamt als zeichenhaft verstanden. Ein anderer zentraler Gedanke ist, daß alles Irdische zu den Menschen spricht, weil es eine moralische Botschaft zum Ausdruck bringt. Die gesamte Umwelt muß daher als lesbar gelten und als etwas, das in moralischer Hinsicht gedeutet werden kann und muß. Das Erscheinen eines Kometen verweist auf eine bevorstehende Katastrophe, als Antwort auf eine moralische Verwahrlosung.
Ihre wissenschaftliche Bedeutung verlor die Signaturenlehre, die Lehre von der Zeichenhaftigkeit der Dinge, die in der Antike im Kontext zahlreicher praktischer Verfahren wie der Vogelflugdeutung oder der Stadtgründungsriten stand, erst im 18. Jahrhundert. Der Umschlag zum modernen Denken erfolgte mit Descartes und läßt sich an den traumatischen Reaktionen auf das Erdbeben von Lissabon ablesen. Auch die Rezeption der kopernikanischen Wende in der Astronomie ist symptomatisch für den Umschlagsprozeß (dazu vgl. Hans Blumenberg, Die kopernikanische Wende). Karl Marx variierte rückblickend den Topos in seiner Wendung von der Industrie als dem „aufgeschlagenen Buch der menschlichen Wesenskräfte“. Die gesamte Geschichte des Topos von der Antike bis zur Gegenwart verfolgt Hans Blumenberg in seinem Buch „Von der Lesbarkeit der Welt“.
Donnerstag, 8. September 2011